Sonntag, 16. Mai 2021

Niemals fertig, immer besser: ein Buch zum Mitdenken

 So war's von Anfang an gedacht: Wer liest, soll fragen. Und genau das hat auch der Autor getan, immer wieder nachgefragt, die veränderten Kontexte der Zeit berücksichtigt, neues Wissen und die intelligenten Beiträge anderer aufgegriffen.

Darüber ist er 70 Jahre alt geworden - ein alter weißer Mann - und dass er einmal weise werden könnte, erscheint ihm ebenso schwer vorstellbar wie dass er Kindheit, Jugend, Studium und Lebenspraxis mit allen Sensationen, Fehlern, Überraschungen, Niederlagen und Glücksmomenten für wiederholbar, geschweige korrigierbar hielte. Leben ist Geschenk - und was daraus wird, hängt von derart vielen, unbeeinflussbaren Faktoren ab, dass einam nur die Wahl bleibt, lebenslang zu lernen.


Schönstes Geschenk zum 70sten: Die Neufassung von "Der menschliche Kosmos", und dass es wieder im Salier Verlag Leipzig erschien, mit dem mich seit 2006 alle meine Bücher verbinden.

Neu ist - neben vielem anderen - das Vorwort. Weil es von Herzen kommt, sei's hier als neue Leseprobe eingefügt. Lust auf mehr kann sich holen, wer die im Blog veröffentlichten Kapitel der Erstausgabe von 2006 anschaut. Viel Vergnügen.

Vorwort in eigener Sache - aber nicht nur

Im Jahr 2016 – ich hatte gerade das Rentenalter erreicht – machte ein Freund namens Hein der Frau meines Herzens einen unwiderstehlichen Antrag. Sie wies ihn ab. Er hinterließ ihr als Andenken einen Flug im Rettungshubschrauber, allerlei bunte Komaträume und uns beiden viele, viele Gründe uns zu freuen: Dass Shi Qin wieder selbständig atmete, das Bewusstsein wiedererlangte, allerlei Schläuche loswurde, die sie am Leben gehalten hatten, zum ersten Mal vom Rollstuhl aus die Koi im Teich und die wilden Erdbeeren im Park der Klinik betrachtete. Fünf Monate nach dem Antrag machte sie die ersten Schritte ohne Rollator am Ufer der Oos im schönen Baden-Baden, trat in einen Hundehaufen – was angeblich Glück bringen soll, uns aber sogleich erinnerte, dass selbst dieses Paradies nicht frei von Übeln ist.

Viele wirkliche Glücksmomente kamen seither hinzu, früher Selbstverständliches wurde lustvolles neues Erleben, gar Abenteuer. Wir sind Ärzten, Physiotherapeuten, Logopäden, Pflegekräften, Freunden, zahl- und namenlosen Helfern im Hintergrund von Herzen dankbar, weil es ohne sie dieses Glück nicht gäbe.

Gut möglich, dass es auch die Neufassung dieses Buches nicht gäbe, denn zum einen halfen Kenntnisse und Erfahrungen, die schon die Erstauflage enthielt, bei der Rehabilitation; zum anderen wurde die Strategie des Froschs im Sahnetopf bestätigt: Wenn du dich nicht aufgibst, sondern strampelst, wird aus der Sahne Butter, dann kommst du aus dem fetten Elend heraus: froh und munter, sogar um einiges stärker und klüger.

Und da die Beweggründe nicht entfielen, aus denen ich „Der menschliche Kosmos“ geschrieben habe, weder die Sorgen, Konflikte und Ärgernisse noch die ermutigenden, bewährten Methoden des Perspektiv- und Strategiewechsels, dürfen meine Frau und ich uns aufs Erscheinen von „Kosmos 2.0“ freuen.

Auch dabei hatten wir sachkundige Hilfe und danken unseren Freunden und Verlegern: Hans-Jürgen Salier nahm schon 2004 mein Manuskript in seinem Hilburghäuser Verlag Frankenschwelle an, sein Sohn Bastian publizierte es als eines der ersten im 2006 neugegründeten Salier Verlag in Leipzig – der Anfang einer wunderbaren Zusammenarbeit.

Bald werde ich 70. Der Blick aufs Weltgeschehen bietet nur hartgesottenen Ignoranten rosige Aussichten, und nur Frösche, die gern in fetter Sahne ersticken wollen, können die Füße ruhig halten. Keine Ahnung, wie lange Zeit und Kräfte für anhaltend munteres Strampeln ausreichen. Keine Ahnung, wie groß der Topf ist, wieviele andere am rettenden Boden unter den Füßen mitarbeiten. Immerhin gibt es sie. Vielleicht gehören Sie, geneigte Leser, dazu: Es wäre uns eine große Freude. Freund Hein, alias „der Gevatter“ darf im Buch nochmal auftreten – er hat aber auch hier nicht das letzte Wort.

 

Donnerstag, 22. März 2018

Online Lesen: "Der menschliche Kosmos"

Vor längerer Zeit hatte ich zum Thema "Gratiskultur" gepostet. Der Entschluss, mein Buch "Der menschliche Kosmos" ausschnittweise hier im Weblog zu veröffentlichen, ist konsequent, indessen keineswegs uneigennützig, denn dabei kann ich den Text aus dem Jahr 2006 abschnittsweise überarbeiten; dafür hat sich seither angesichts globaler, mehr noch politischer Entwicklungen in Deutschland reichlich Stoff angesammelt. Wer mag, kann mit dem Originaltext vergleichen.

Das Buch erschien erstmals 2006 - es wächst
VORWORT

Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.
Das gilt für den Einzelnen, der kaum längere Zeit ungesellig leben kann, wenn er essen, trinken, sich warm halten und soziale Grundbedürfnisse befriedigen will.
Das gilt für die Gattung in einer enger werdenden Welt mit knappen Ressourcen und begrenzten Räumen. Zwar werden natürliche Katastrophen unsere Spezies immer gefährden – niemals werden sich Erdbeben, Überflutungen, Brände, Seuchen, Einschläge von Asteroiden oder kosmische Strahlung gänzlich beherrschen lassen - aber wir stehen heute mehr denn je vor der Frage, ob nicht menschliches Handeln, ob nicht seine Formen sozialer Interaktion das eigentliche Problem sind.
Können wir Konflikte zwischen konkurrierenden Gruppen - Nationen, Kulturen, Ethnien, Religionen, Konzernen, Banken, Regierungen, Parteien oder sonstiger (an Stämme der Steinzeit erinnernder) Organisationsformen – anders als durch Gewalt lösen? Sind nicht aggressive Strebungen, Dominanzwünsche und Gewalt elementare Strategien des Überlebens?
Gewalt als Schlägereien, Revolten, Kriege und Terrorattacken hat es immer gegeben, sie dauert fort und findet neue Formen im Cyberspace. Der Einzelne hatte wenig mehr als den Zufall auf seiner Seite, wenn es ums Überleben ging. Die naturwüchsige Strategie von Herden, Schwärmen, Sippen, Horden, Banden verbesserte seine Chancen, alle profitierten vom Schutz, vom Fortbestand der Gemeinschaft, Verlierer blieb immer der Einzelne. Ähnlich verhält es sich mit Strategien der stammeskulturell geprägten Meute, des Mobs, der Staaten, Unternehmen und Verbände aller Art.
Mit der Entwicklung moderner Staaten und Firmen samt Heeren von Arbeitern und Angestellten wird das Phänomen struktureller Gewalt interessant: Es gibt Organisationen, die nach außen und innen rücksichtslos ihre Interessen zur Selbsterhaltung durchsetzen - gegen Leib und Leben des Einzelnen, gegen die Konkurrenz, das Gemeinwesen und gegen die Natur.  Sie trachten danach, sich mit besonderen Rechten auszustatten - auf nationaler, zunehmend supranationaler Ebene, so dass weder sie selbst noch irgend eines ihrer Mitglieder für jede Art Fehlleistung in Haftung zu nehmen wären. Solche Organisationen versuchen mit legalen oder kriminellen Mitteln, die Grundlage allgemeinen Rechts zu usurpieren: das "Gewaltmonopol des Staates". Dass Konflikte eskalieren, dass sie in vollkommene Zerstörung münden, nehmen sie schlimmstenfalls in Kauf. Sie stellen die ihnen zugehörigen Menschen von Verantwortung frei und machen sie zu willfährigen Handlangern.
Der Vorgang wird an den totalitären Systemen des Kommunismus und Nationalsozialismus deutlich. Religiöse oder andere ideologische Verklärungen von Gewalt gab es seit je - hier nahmen sie im Deckmantel von Heilsversprechen an ihre Gefolgschaft die Dimension von Genoziden und Weltkriegen an. Angesichts globaler Auswirkungen, die seit dem 20. Jahrhundert sowohl mit Kriegen unmittelbar, als auch mit Angriffen auf Energie- oder Finanzwirtschaft, Informations-und Versorgungssysteme einhergehen, ist zu fragen, ob Konflikte zwischen Menschen auch künftig so unvermeidlich und unbeherrschbar bleiben wie Naturereignisse.
Lässt sich das Verhalten von Milliarden Menschen nicht auf ein friedliches, ausbalanciertes Zusammenleben hin beeinflussen, auf kooperative Strategien der Individuen und ihrer Organisationen, zum Nutzen der Gattung mit ihrer Kultur (Technik) und der sie umgebenden Natur? Derzeit erscheint das - mit dem Blick auf politische Realitäten - als Wunschtraum.
Zweierlei zumindest ist sicher:
  • Konflikte sind unvermeidlich; sie erzeugen die Dynamik zwischen Gruppen von Menschen ebenso wie zwischen Individuen und dem gesamten Umfeld, mit dem wir alle interagieren: mit der Welt.
  • Konflikte werden in Zukunft ALLE betreffen. Die globale Wirtschaft wird es unvermeidlich geben und damit wechselseitige Abhängigkeiten aller von (fast) allen. Das betrifft die natürlichen Ressourcen ebenso wie den Informationsaustausch.
Angesichts dieser mit dem abgedroschenen Begriff "Komplexität" unzulänglich beschriebenen Lage ist nichts verdächtiger als Heilslehren.
(Fortsetzung - Abschnitt 2)

Dienstag, 20. März 2018

Ungemein eigensinnig–und inspirierend

GRIMM_NEU_U1_NEUKaum dass ich lesen konnte, geriet ich vor über sechs Jahrzehnten an ein dickes Buch in grauem Leineneinband, das mich weit übers Schulische hinaus immer wieder fesselte: “Knaurs Lexikon” war in fetten Blockbuchstaben eingeprägt. Vom A beginnend grub ich mich hindurch – und reiste aus der engen Thüringischen Kleinstadt hinaus in alle Welt. Wie viel Futter für die Phantasie hinter diesen Buchstaben, Worten und Artikeln steckte! Damals gab es nur wenige Bilder, Landkarten erschlossen sich dank der Erzählungen meiner Großmutter von den Seereisen des Großvaters nach Afrika, China, Indien, bis in die Kriegsgefangenschaft nach Australien. Dann kam ich an den Buchstaben N, dort fehlten viele Seiten, fast alle mit Wörtern, die mit “Nat” begannen. Die Oma erklärte alsbald, weshalb sie fehlten, das Knäblein stürzte sich mit umso heftigerer Neugier auf ein unversehrtes Exemplar des “Knaur”, das sich im Bücherschrank des Onkels fand. Der Nationalsozialismus erschien ihm dort groß, voller lockender Ziele, Orden, Auszeichnungen, Uniformen – und flößte zugleich Furcht ein.
Diese Geschichte erzähle ich, weil mein Leben voller kostbarer Bücher war, weil dieses von Peter Graf herausgegebene eine wahre Schatztruhe der deutschen Sprache und ein unerschöpflicher Quell der Neugier und Phantasie ist, und weil es – wie alle Enzyklopädien, Lexika, Wörterbücher – zum Verständnis von Geschichte und Literatur viel Wundersames und etliche tiefere Einsichten bereithält als einschlägige Fernsehserien, Radiodokus, Zeitschriften, Vorträge.
Freilich bekommt der Leser hier keine fixfertigen und wohlverdaulichen “Narrative” verabreicht, nur zahllose Anregungen. Er darf selbst der Vielfalt, den Wandlungen, dem Gebrauch – insbesondere dem literarischen – von Wörtern nachspüren. Deshalb erwarten Sie bitte von mir auch keine “Buchkritik”. Mein Artikel hinkt sowieso vielfachem Lob hinterher; der “VERLAG DAS KULTURELLE GEDÄCHTNIS” ist in kurzer Zeit durch sein ambitioniertes Programm und die originelle Buchgestaltung zu einem Liebling der Fachleute geworden, und Grafs Arbeit insbesondere verdient die mediale Aufmerksamkeit. Schon wegen der Leistung, aus fast 35 Tausend Seiten des "Deutschen Wörterbuchs" mit seiner langen Entstehungsgeschichte 352 auszuwählen. Im Vorwort erzählt er, wie er "nach Lust und Laune" zu seiner Blütenlese kam, und was wir dem riesenhaften Unterfangen der Brüder Grimm verdanken.
Nach derlei wurde er in Interviews gefragt, nach "Lieblingswörtern", auch nach Beiträgen im DWB aus der neueren Zeit, denn zu einem vorläufigen Ende kamen die Nachfolger der Brüder Grimm erst 1961. Peter Graf schlug vor, während des Nationalsozialismus Hinzugefügtes nicht zu tilgen, obwohl es ihm verständlicherweise missfiel, sondern es zu kommentieren. Und damit schließt sich der Kreis: Durch Weglassen oder "Ausmerzen" kann niemand etwas lernen. Um so mehr ist zu bedauern, dass eine Neubearbeitung, in den 1950er Jahren begonnen, seit 2016 nicht mehr weiterverfolgt wird. Gar zu gern hätte ich eine Wortschöpfung von Bertolt Brecht dort wiedergefunden: Das "Kaderwelsch". Sie steht in den Buckower Elegien [11]. Kaderwelsch nennt Brecht "Die neue Mundart" der Politbürokraten:
...Dem, der Kaderwelsch hört
Vergeht das Essen.
Dem, der es spricht
Vergeht das Hören.
Und wer sich davon erholen will, erlabe sich an den Wortschönheiten in der "ungemein eigensinnigen Auswahl" aus dem DWB - oder hebe daselbst weitere Schätze.

Peter Graf "Eine Ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmischen Wörterbuch", Verlag Das Kulturelle Gedächtnis 2017, 352 Seiten, 25 €

Freitag, 15. Dezember 2017

Kapitel 6 (6)

Zurück zu Abschnitt (5)

Das Leben des Pilzes frisst die Lebensenergie des Baums
Kommen wir auf die verfügbare Zeit zurück. Wir reden von nichts anderem als einem Energieverhältnis. Keinem uns bekannten dynamischen System – egal ob „belebt“ oder „unbelebt“ – steht für seine Interaktionen unbegrenzt viel Energie zur Verfügung. Das Energiepaket eines Menschen hat im Allgemeinen eine Größenordnung von einigen zehn (heute durchschnittlich fast achtzig) Jahren. Wie weit dieses Reservoir in den Interaktionen mit der Umgebung ausgeschöpft wird, hängt von Anfangs- und Randbedingungen ab, aber wir wollen katastrophale Verläufe einmal ausblenden.
Die Reichweiten unserer Interaktionen liegen alle in einer bestimmten Größenordnung und unsere gesamte Wahrnehmung ist auf diese Größenordnung „geeicht“. Die biologische Uhr des Menschen bezieht sich vollkommen auf seine Energieaustauschprozesse. Sie registriert während heftiger seelischer und körperlicher Aktivität einen anderen „Zeitverbrauch“ als in passiven Phasen.
Was, soviel Zeit ist schon vergangen?“, fragen sich die Liebenden, wenn sie zur Uhr schauen, „so wenig erst!“, denkt zur gleichen Zeit der Nachtwächter. Das mechanische Bewusstsein würde hieraus schließen, dass die Lebenserwartung von Nachtwächtern wegen des geringeren Energieaustauschs mit der Umgebung länger ist als die von Erotomanen. Das ist schon deshalb Unsinn, weil beide jederzeit die Rollen tauschen können. Jede Biographie hat ihren charakteristischen Energieverlauf; die Bilanz aber liegt bei allen Menschen in der gleichen Größenordnung (wie gesagt: von katastrophalen Verläufen sehen wir ab). Um es noch einmal ganz klar herauszustreichen: die mechanische Ticktack- Uhr ist nur Mittel, Unvergleichbares zu vergleichen. Sie ist ein Instrument unserer technischen Zivilisation und ausschließlich für deren Zwecke wird sie immer weiter vervollkommnet in ihrer Genauigkeit, ohne je die mechanische Abfolge des „eins nach dem anderen“ zu verlassen.
Wir landen hier beim Rätsel des „Symmetriebruches“ (Zeit läuft nur in eine Richtung, eine Umkehr ist nicht möglich), über den Physiker und Philosophen anhaltend grübeln. Und ich will mich diesen Grübeleien nicht anschließen, sondern noch einmal – nehmen Sie’s mir bitte nicht übel – auf der Forderung bestehen, Zeit nicht als absolute und „wertneutrale“ Größe zu sehen, sondern vom Standpunkt des dynamischen Systems aus als an Wechselwirkungen gebundene. Schauen wir also auf die Biographie, als hätten alle Interaktionen Jahresringe hinterlassen. So gesehen wird klar, dass jede spätere Interaktion auf dem Holz des Erlebten, Verarbeiteten und nur noch eingeschränkt Verfügbaren aufbaut. Wir können nicht unser Gedächtnis wie eine Festplatte oder ein Magnetband „löschen“ und neu beschreiben und unseren Körper – also unsere Wahrnehmung – immer aufs Neue „neutralisieren“. Unsere innere Matrix gestaltet sich, genau wie ein Baum, kumulativ. Deshalb haben Kinder ein ganz anderes Zeitempfinden als Erwachsene und uns scheint die Zeit schneller zu verrinnen je älter wir werden. Jede Bewegung erfasst den ganzen Baum und nicht nur die im letzten Jahr neu gewachsenen Äste, jede Wahrnehmung mobilisiert den gesamten Erfahrungsschatz und damit alle Antizipationsmöglichkeiten, nicht nur die der letzten Sekunden oder 24 Stunden. In komplexen und bis heute nicht erkannten Prozessen werden „Langzeit-“ und „Kurzzeiterinnerungen“ mit einer Fülle von Strategien abgeglichen. Die Routinen und Rituale sind dabei gewissermaßen das feste Holz, das den Energieaufwand in Grenzen hält. Sie verleihen uns Gestalt oder den „Charakter“ in den Interaktionen und Selbstinteraktionen. Vertrauen wir also unserem Zeitempfinden und lösen wir uns von der technisch- zivilisatorischen Fiktion einer abstrakt und gleichmäßig ablaufenden Zeit. Sie gaukelt uns vor, in einen amorphen und unbestimmten Raum hineinrennen, -planen, -bauen und –regieren zu können, in der die Sonne morgens auf- und abends untergeht. Unsere Zukunft aber hat eine Struktur, so wie die Baumzeit ihre Ringe. Sie wird bestimmt durch die Anfangsbedingungen und das Wechselspiel aus Systemstrategien und Umgebungseinflüssen.
Das Beharren auf mechanisch-kausalen Strategien läuft auf den kindlichen Versuch hinaus, nach erfolgreicher Bändigung eines Schnürsenkels eine Schleife in eine Giftschlange zu machen.
Sie halten das für eine blödsinnige Übertreibung? Dann fragen Sie doch ruhig einmal etwas genauer nach, zu welchem Ergebnis es führen soll, die Lebensdauer des Menschen um eine Größenordnung – nicht um ein paar Monate oder Jahre – zu verlängern. Geben Sie Ihrer Phantasie Zucker und gehen Sie durch eine Stadt New York, in der eine Milliarde Menschen im Alter zwischen fünf und fünfhundert leben. Bevölkern Sie Ihre Wohnung mit der zehnfachen Mannschaft. Denken Sie über den Preis gar nicht nach. Stellen Sie sich nur vor, dass alle diese reizenden, gutaussehenden, gesunden und wohlgenährten Menschen ihre Konflikte genauso austragen, wie es heute üblich ist. Denn über geänderte Verhaltensweisen schweigen sich alle die grandiosen Utopien der technischen Zivilisation aus. Sie wissen nicht warum, sie ahnen es nur.

Weiter mit Abschnitt (7) 

Donnerstag, 23. Februar 2017

Kapitel 6 (5)

Zurück zu Abschnitt 4
AtelierDer Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, die Absichten des Kindes nicht nur brachial („dominant“) zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Ziel zu lenken. Dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je zu dauerhaft funktionierenden Pat(end)lösungen zu kommen, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?
Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht. Um es auf ein anderes beliebtes Paradox zu bringen: „Beherrsche mich!!!“ sagt der Masochist zur Domina.
Wir können das Paradox auflösen. Dazu müssen wir nur eines tun: wir müssen akzeptieren, dass es Erde, Sonne und Menschen nur gemeinsam und als Teil des Universums gibt und dass die Zeit nicht nach unseren Uhren läuft. Was vergangen ist, ist nicht „objektiv reale Vergangenheit“ und die Zukunft ist alles andere als unbestimmt.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie blicken vom Moment ihres Todes aus zurück. Sehen Sie die Zeit nicht unabhängig mit dem Ticktack der Uhren ablaufen, sondern als verfügbare Zeit, deren Maß ausschließlich Ihre Interaktionen mit der Umgebung sind. Es ist schwer, sich vom Diktat der mechanischen Zerhacker freizumachen, nicht wahr? Dabei ist dieses Instrument erst seit etwa 200 Jahren jedermann an jedem Ort verfügbar; noch Ende des 18. Jahrhunderts machte sich der längst vergessene preußische Schriftsteller Theodor Gottlieb von Hippel in einem Theaterstück über den „Mann nach der Uhr“ lustig. Heute sind wir alle „Menschen nach der Uhr“, abhängig bis zur besinnungslosen Hatz nach Terminen. „Zeiteinteilung“ meint fast immer ein mechanisches Raster, das zu den Abläufen des Gestells kompatibel sein muss. Aber die verfügbare Zeit hat ein anderes Maß. Die Dauer eines Traumes, einer Geburt, eines Liebesaktes, eines schweren Konfliktes sind nicht mit der Stoppuhr zu messen. Denn wann genau wollten wir sie ein-, wann ausschalten? Wann beginnt der Traum vom Fliegen, wann endet er? Wenn Sie zurückblickend die Chance hätten, durch Streichen eines Ereignisses Zeit „zurückzugewinnen“ – wie wollten Sie das messen und berechnen? Dem mechanischen Verständnis fällt das scheinbar leicht:
Die betrunkene Silvesternacht von 1969 ab Schlag zwölf bis vier Uhr früh streiche ich. Ich wende mich nicht der aufreizend hübschen Babsy zu, sondern stoße mit meinen Kumpels an und gehe irgendwann sturzbetrunken aber solo ins Bett. Damit mache ich den Neujahrstag zum Ausnüchtern und die folgenden drei Monate für das Studium verfügbar, promoviere erfolgreich und sterbe in einem schönen Haus im Grünen, statt in einer Mansarde in Berlin-Schöneberg“.
Wieviel Zeit gewonnen, wieviel Zeit verloren? Wenn der Tod im Reihenhaus durch Herzinfarkt und zwanzig Jahre vor dem in der Mansarde eintritt? Wenn aber andererseits dem Doktor die Zeit erfüllt war mit Glück im Beruf und in der Familie und ihm „im Fluge“ verging, während sich der Glücksritter der Jugendjahre als alter Single dahingrämte?
Zeit ist keineswegs gleich Zeit, wie uns die Zerhacker glauben machen wollen. Vor allem aber: wir können uns „zurückblickend“ der „Vergangenheit“ nicht nähern, wir entfernen uns definitiv von ihr immer weiter. Indem wir unsere Gedanken wandern lassen, verbrauchen wir neue Zeit – die wir im Moment des Todes gar nicht mehr hätten. Sie werden mir nachsehen, dass ich Sie erst jetzt über dieses Paradox stolpern lasse – falls Sie mir nicht längst auf die Schliche gekommen sind, weil Sie das erste Kapitel oder „Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird“ aufmerksam gelesen haben. Dann wundern Sie sich auch nicht, dass „Erinnern“ nicht rückwärts, sondern vorwärts läuft – von dem Zeitpunkt an, auf den Sie zurückblicken, brauchen Sie Zeit, alles Folgende zu modellieren.
Zeit gibt es nur in Verbindung mit Interaktion. Mit Vergangenem können wir nicht interagieren, wohl aber mit „trägen Resten“ der Vergangenheit. Wir sind umgeben von Systemen, die träger interagieren als wir; sie nennen wir „dauerhaft“ und suchen an ihnen die Merkmale „vergangener“ Interaktionen. Was wir „Geschichte“ nennen ist eine spezielle Form zu konstruieren ­­– also wiederum Interaktion mit Daten, Gegenständen, Aussagen mit dem Ergebnis, Modelle zu haben und zu erzählen. Sie sollen möglichst plausibel sein und uns Muster erkennen lassen. Mustererkennung aber ist eine elementare Funktion unseres Gehirns, die im Wesentlichen unbewusst abläuft. Auch beim Simulieren, beim Machen und Erzählen von Geschichte spielen Wünsche und Ängste – und damit Strategien des Vermeidens und Erlangens – mit, die der Kontrolle unseres Bewusstseins entgehen.
Wir geraten an den vertrackten Umstand, dass „Geschichte“ häufig eine Simulation vermeintlich historischen Geschehens in Gang setzt, deren Muster von vornherein den erwünschten Ergebnissen entsprechen. Die „Lehren der Geschichte“ bestätigen unsere vorgefassten Meinungen.
Indessen hat jedes dynamische System eine gemäße Zeit für seine inneren und äußeren Verhältnisse; unser mechanisches Raster schafft bestenfalls eine Relation zwischen unseren Nutzanwendungen und den gemessenen Systemen. Noch immer werden Äpfel eben zu ihrer Zeit reif und nicht wenn es der Konservenfabrik passt. Und die Zeit eines Menschen hat eine Relation zur kosmischen Dimensionen und zu den Dimensionen der Elementarteilchen, die wir uns kaum vorstellen geschweige beherrschen können. Dennoch träumen wir angesichts sterbender Sonnen von der „Unsterblichkeit“ und ziehen an allen Hebeln der Dominanz, sie zu erreichen. Wir akzeptieren gerade eben, dass die Vergangenheit eine Struktur hat, die wir nicht ändern können; dass auch die Zukunft unbeherrschbar strukturiert ist, wollen wir nicht hinnehmen. Planung soll das Dominanzprinzip perpetuieren.
Aber Zukunft ist kein leerer Zeit-Raum, in den sich hineinhantieren lässt. Die Plätze sind besetzt: von Erdbeben, Klimaveränderungen, kosmischen Katastrophen. Vor allem aber von nie gleichzeitig beherrschbaren Zielen und ihrer Antizipation, von den Kraftfeldern mit den wesentlichen Mustern der menschlichen Existenz, von den gleichzeitig wirkenden, die ganze Geschichte der Menschheit wie des einzelnen bewegenden Strategien. Dabei zeigt sich: Gefährlicher für die Menschheit als Killerviren, Klimakatastrophen oder Energiemangel sind unangepasste Strategien. Und natürlich die zugehörigen Rituale und Verhaltensmuster. Wir sind nicht besser als die Igel, nur anders. Wir rollen uns nicht vor den Vierzigtonnern zusammen – nicht in jedem Fall – wir fahren sie. Wir können uns allerdings auch fragen, ob wir wirklich die Joghurtbecher von Polen nach Spanien karren müssen.
Das Beispiel der „BSE- Seuche“ reiht sich würdig in die schier endlose Folge besinnungslos bis zur Katastrophe durchgehaltener Verhaltensweisen: „möglichst viel möglichst billig“ – das war das Ziel der Fleischverbraucher, der Viehzüchter, der Futterhersteller. Tierkadaver, Abwässer samt Fäkalien: egal womit Tiere gefüttert wurden, Hauptsache der Gewinn war möglichst groß. Alle drehten an der Schraube, die Profit aus geschundenen Tieren herausquetschen sollte. Dann tauchten auch im „Musterland“ infizierte Tiere auf und alsbald begann die Hatz auf Sündenböcke. Am Ende war es der Staat, der „Verbraucher nicht genug geschützt“ haben soll. Vor wem, wenn nicht vor sich selbst und ihrer Geiz-ist-geil-Strategie? Vor wem, wenn nicht vor der eigenen Habgier? Nein, habgierig, neidisch, verantwortungslos sind ja immer nur die anderen.
Mit derartigen Beispielen lassen sich Bibliotheken füllen. Und es ließe sich vor allem eines verdeutlichen:
Mit äußeren, geschriebenen Regeln, Gesetzen und Verordnungen, mit Kontrollen und Strafen ist den tödlichen Strategien nicht beizukommen. Jede Regel, jedes Gesetz, jede Verordnung gebiert, sobald nur kundgetan, eine Vielzahl von Schlupflöchern, Methoden, sie zu umgehen oder zu unterlaufen, Ausweichmanöver und nötigenfalls kriminelle Abwehr. Wer imstande ist, tödliche Strategien zu erkennen, täte besser daran, sein Verhalten zu verändern: Durch neue oder geänderte Routinen und Rituale. Es genügt nicht, zu wissen. Nur wo handelnde Subjekte eigenverantwortlich ausprobieren können, und das heißt, auch den unbewusst ablaufenden Interaktionen Platz und Entfaltung zubilligen, entsteht ein schöpferisches Wechselspiel aus Versuch und Irrtum, Lernen und Gestalten. Wie bei Kindern, wenn sie Glück haben.
Weiter zu Abschnitt 6













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