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Donnerstag, 11. September 2025

Erwünschte Entfernung

Mit fortschreitendem Alter stellt sich immer dringlicher die Frage, wofür einer seine Energien einsetzen will, von welchen Arbeitsfeldern er sich besser zurückzieht, weil Aufwand - also knapper, kostbarer werdende Lebenszeit - und Nutzen - also der Gewinn an Zufriedenheit, zu dem wohl auch das Einkommen beiträgt - nicht mehr in vernünftigem Verhältnis stehen.

Im Journalismus war mein erwartbarer Gewinn an Zufriedenheit schließlich ebenso dramatisch geschrumpft wie meine Möglichkeiten, unerfreulichen Entwicklungen auf diesem Arbeitsfeld zu wehren. Die Situation war - insbesondere was das Fernsehen anlangt - jener zu vergleichen, in der ich mich seit Anfang der 80er Jahre in der DäDäÄrr befand: Mit unvertretbarem Kraftaufwand versuchte ich damals, quadratzentimeterweise auf Theaterbühnen Handlungsfreiheiten zu behaupten. Das erwies sich als sinnlos, weil immer genügend Bereitwillige verfügbar waren, mich zu verdrängen, meine Positionen zu besetzen. Der Staat konnte meine jederzeitige Ersetzbarkeit zur Erpressung nutzen, er versuchte, mich in den Mainstream des Gehorsams zu zwingen. Ich gab nicht nach, ich stieg aus. Die Nachfolger machten Karriere - einige besonders Stromlinienförmige auch nach dem Zusammenbruch der DäDäÄrr im vereinigten Deutschland; nicht nur sie verdarben mir die Lust, jemals wieder an Stadttheatern zu inszenieren. Mit der Hochachtung für die oppositionellen Autoren, Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und anderen mutigen Mitarbeiter der Theater in totalitären Staaten wuchs meine Enfernung zu den bequemen Salonrevoluzzern des Westens. Ähnliches hat Liao Yiwu in China erlebt. Das Radiofeature über ihn und seinen Roman "Für ein Lied und hundert Lieder" zeigt, wie nahe sich der aus China und der aus der DäDäÄrr "entfernte" sind.
Ersetzbarkeit ist das Mittel der Erpressung in allen Sozialsystemen - das war keine gänzlich neue Einsicht meiner Tätigkeit als Journalist in den vergangenen zwanzig Jahren. Diese Einsicht, ihre sozialen Hintergründe, ihre Konsequenzen flossen in mein erstes Buch "Der menschliche Kosmos" ein: 2006 begann mit seinem Erscheinen mein Ausstieg aus dem Fernsehen. Es hatte wirkliche Höhepunkte, Erfolge gegeben, die dem Funktionieren demokratischer Strukturen und dem Auftrag öffentlich-rechtlicher Anstalten Ehre machten.
Die Entwicklung aber macht aus Journalisten zunehmend Erfüllungsgehilfen. Quotenvermutungen bestimmen fast ausschließlich, welche Themen ins Programm kommen; statt journalistisch distanzierter Haltung beim Berichten und womöglich quer stehender eigener Meinung beim Kommentieren richten sich Stellungnahmen an minder qualifizierten Prominenten oder politisch korrekten Experten aus. Es ist egal, ob die vermeintlichen Gewissheiten von heute sich morgen als Unsinn erweisen: Hauptsache schnellstens auf der "richtigen" Seite dabeisein, Hauptsache Quote.
Für mich wurde es höchste Zeit, mich aus diesem Geschäft zu verabschieden, nur noch das zu tun, was mit meiner Haltung vereinbar ist: So wenig wie der staatlich verordneten Monokultur im Osten werde ich der auf Konformismus zielenden Monokultur des Mainstreams zuarbeiten. Es gibt Wichtigeres - sogar Wichtigeres als Geld.

2022 ergab sich die Möglichkeit, als Autor für das von Oliver Gorus neugegründete Magazin "Der Sandwirt" zu arbeiten, im Oktober 2024 erschien - auch als Podcast - eine Version "3.0" von "Der menschliche Kosmos". Danach stellte sich die Frage vom Anfang dieses Artikels neu. Die insbesondere und seit dem Corona-Geschehen veränderte politische und Medienlandschaft legen mir nahe, meine "Restlaufzeit" nicht in den Schützengräben ideologischer Kriege zu verbringen. Deshalb werde ich dieses Weblog nicht weiterführen.

Gute Wünsche an alle Leser: Bleiben Sie selbständig im Denken und unerschütterlich im Ringen um die Freiheit - nicht nur der Meinung.

Donnerstag, 26. Januar 2017

Kapitel 6 (4)

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Ludwig XIV. - "Sonnenkönig" von Frankreich
Vor jedem Handeln liegt eine Entscheidung. In den allermeisten Fällen sind wir uns dieser Entscheidungen nicht bewusst. Wenn wir zurückschauen, ergibt sich fast ausnahmslos, dass einer der Handelnden die Tendenz hatte zu dominieren. Es gab immer einen Sieger, einen „Hammer“ und einen „Amboss“. Unsere Geschichtsschreibung und insbesondere die Massenkultur suggerieren, dass ein Sieg, dass das Beherrschen des Gegners wünschenswert ist: „The Winner Takes it All“. Egal was die Siege kosten – sie sind zunächst und vor allem Siege. Diesem Prinzip ist der Mensch seinem Mitmenschen und seiner natürlichen Umwelt gegenüber einige Jahrtausende hindurch gefolgt, und er beherrscht sie mit seinem bewundernswert entwickelten Instrumentarium heute in Bereichen, von denen nur Visionäre vor hundert Jahren träumten. Überschallflüge, Raumgleiter, Tiefseetaucher, Rasterkraftmikroskope für Millionstel Millimeter kleine Räume, Laserimpulse von gewaltiger Energiedichte, die so kurz sind, dass sich 10 –15 Sekunden kurze Prozesse im Zellinneren fotografieren lassen. In den Medien jagen sich die Meldungen von immer mächtigeren Wirtschaftsunternehmen und Supercomputern, gentechnischen Wunderwaffen gegen Krankheiten; bald sollen Roboter, so klein wie Bakterien, unsere Körper durchwandern, diagnostizieren und reparieren.
Noch mehr fesseln das Publikum und die für Werbeeinnahmen zuständigen Medienmanager allerdings Nachrichten von Katastrophen: Wirbelstürme, Killerviren, abstürzende Jets, Massenmorde, Erdbeben. „Wird es schlimmer?“ fragen die Journalisten mit Mienen voller Besorgnis, „Und wenn ja: WARUM? UND WER IST SCHULD?“
Sie sollten sich damit nicht weiter quälen. Wir sind einfach dabei, uns zu Tode zu siegen. Das ist ganz normal, denn jede Strategie ist eine Strategie zum Tod. Solange wir dem Dominanzprinzip huldigen, die Welt als Maschine betrachten, deren Rädchen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung ineinandergreifen und nach dem Warum fragen, wenn uns ein Kampfhund in die Nase beißt, sind die Tage menschlicher Existenz ebenso gezählt, wie die Minuten eines Igels, der sich vor einem Vierzigtonner zusammenrollt.
Bevor in einer Interaktion eine Entscheidung fällt – also andauernd im „Rhythmus von Millisekunden“ – ist in einem komplexen Prozess die Auswahl einer bestimmten Strategie abgelaufen. Jede Lebensform entscheidet sich für diejenige, welche das Wünschenswerte antizipiert. Um es noch einmal ganz deutlich zu unterstreichen: Entscheidungen und Handeln sind von Zielen bestimmt, nicht von Ursachen, die „innere Matrix“ liefert dafür die Strategien. 99 % der Entscheidungen erfolgen unbewusst. Und die gewählten Strategien laufen ganz und gar nicht immer auf Dominanz hinaus, sondern – Sie können es vielleicht schon nicht mehr hören – auf das Erhalten dynamischer Gleichgewichte. Dabei konkurrieren Strategien mit äußerst unterschiedlichen Zeithorizonten, die sich im Laufe des Lebens obendrein sehr verändern. Bewusst wird von diesem permanenten „Streit der Gefühle“ das wenigste.
Aber unsere Wahrnehmung ist retrospektiv. Wir schauen auf das Ergebnis und interpretieren es auf Ursache und Wirkung hin. Wir konstruieren Wirklichkeit über Blicke in den Rückspiegel, während das Leben unablässig weitergeht – und wir von der Realität vor uns, von der Zukunft, nichts wissen können. Wir können nur aus statistischen Daten eine mögliche Zukunft modellieren. Das funktioniert erfahrungsgemäß ganz gut, aber es bleibt eben ein Modell, das von Daten aus dem Rückspiegel lebt. Realität: Die Nase blutet, der Rottweiler ist weg. Konstrukt, um sicheres Verhalten gegen künftig auftauchende Beißer herauszufinden: „Was habe ich falsch gemacht? Warum hat er gerade mich gebissen?“ Außer der Frage war nichts falsch. Es war Glück.
Der Rottweiler antizipierte eine leichte Beute und hätte sicher weiter gespielt. Er hätte Sie gern zum apportierbaren Fleischklumpen gemacht, aber ein Pfiff seines Herrn, eines strengen Dominanzanhängers, hielt ihn ab. Hasso wollte, statt seinem Instinkt zu folgen, lieber schwerste Prügel vermeiden: Ziel und Strategie wechselten blitzschnell. So weit die Realität. Ebenso naheliegende wie fragwürdige Schlüsse:
  • Alle Rottweiler sind bissig – meide sie!
  • Leinenzwang für Hunde muss überall gelten!
  • Das Halten bissiger Hunde muss verboten werden!
  • Hundehalter brauchen einen Hunde-Führerschein!
  • Hunde dürfen nur in umzäunten, mit Warnhinweis ausgewiesenen Gebieten frei laufen!
Jeder dieser Schlüsse zieht Verhaltensszenarien nach sich. Besteht auch nur eines die Prüfung auf Realitätstauglichkeit? Schon Versuche, in Verkehrsmitteln oder an öffentlichen Plätzen, wo sich Menschen drängen, einen Zwang zu Leine oder Beißkorb durchsetzen zu wollen, sind hoffnungslos gescheitert. Tucholskys Glosse über Hunde und Hundehalter ist aktuell wie je.
Welche Vielzahl von Strategien wir einsetzen, habe ich in dem (nicht im Weblog publizierten) Kapitel über die „wortlose Weltsprache”, den körperlichen, nonverbalen Teil der Kommunikation, angedeutet – auch dass unsere Wahl- und Entscheidungsfreiheit ziemlich beschränkt ist. Aber dieses zusätzliche Instrument – Sprache und sprachliches Bewusstsein –, das uns vom Igel unterscheidet, können wir zu Anderem nutzen, als nur um zu dominieren. Wir können uns bewusst machen, dass Dominanz nur den engsten Zeithorizont erfasst und als singuläres Verhältnis in dynamischen Systemen auf Stillstand und Chaos – also Tod hinausläuft.
Anschaulich gesprochen: wenn wir unseren Trieben, Wünschen und Lüsten samt ihren mechanischen Rechtfertigungen („wenn ich’s nicht tue, tut’s ein anderer“, „schließlich machen es alle so“) folgen und despotisch durchsetzen „was das Herz begehrt“, zerstören wir uns selbst. Anarchie ist insofern nur die Kehrseite des Despotismus, dem sie zu trotzen behauptet. Sich jederzeit möglichst nach Lust und Laune verhalten zu können, erscheint vielen wünschenswert und entspricht kindlichen Vorstellungen von „Freiheit“. „Keine Macht für niemand“ oder „Gebt den Kindern das Kommando“, so wird gesungen und skandiert. Es sind Despotenträume.

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Mittwoch, 25. Januar 2017

Kapitel 6 (3)

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So wenig es ein Leben ohne Interaktion geben kann, so wenig kommt Interaktion ohne Rituale und Routinen aus. (Routinen definiere ich der Unterscheidung halber als zweckbestimmte Handlungen, die im Gegensatz zu den Ritualen keine sozialen Rollen definieren). Die Komplexität unserer Bewegungen und Handlungen ließe sich ohne sie nicht bewältigen. Das Anschnallen im Auto ist eine solche Routine, das Frisieren vor dem Spiegel nur, wenn es nicht der Selbstinteraktion dient – also praktisch nie. Es ist normalerweise ein Ritual der Selbstdefinition.
Heben wir nun einmal die Augen auf zu den Mächtigen dieser Erde. Sie halten es sicher auch nicht für einen Zufall, dass Macht mit Begriffen wie „hochgestellt“, „erhaben“ oder einfach „groß“ verbunden ist. Klar: die früheste, tiefste und nachdrücklichste Erfahrung mit Unterordnung und Macht ist die rein körperliche Unterlegenheit des Kindes.
Kohl bei der Öffnung des Brandenburger Tors am 22.12.1989

Die Gegner Helmut Kohls hatten es insofern um einiges schwerer als die Oskar Lafontaines, zeitweise um fast anderthalb Zentner. Während Kohl mit seiner auf 194 Zentimeter verteilten Masse jede Menge Luft von der politischen Bühne schob, schien der Zwerg aus dem Saarland ständig auf den Zehenspitzen stehen und das Kinn nach oben recken zu müssen, um auf andere herabsehen zu können. Die katastrophalen Wirkungen auf seine Sympathiewerte beim Publikum habe ich oben schon erörtert. Im Zusammenhang mit Kohl habe ich nicht einmal von wirklich bösen Giftspritzen unter den weiblichen TV- Konsumenten so etwas wie „fieser alter Stinker“ gehört. Witze ja, Abfälliges über seine Intelligenz und seine Bildung die Menge, aber keine wirklich kränkende Bezeichnung. Noch der Wirbel rund um die Spendenaffäre und den nachfolgenden Untersuchungsausschuss zeigt, welche Wellen ein Koloss Kohlschen Formats schlagen kann, und wie er damit seine politischen Gegner ins Strampeln bringt.
Die körperliche Vorgabe begünstigt eine Rollenverteilung nach dem Schema „Vater und Kind“. Sie wäre aber wirkungslos, wenn nicht entsprechende Rituale zwischen dem „Riesen“ und seiner Umgebung dieses Schema fortwährend reproduzieren würden. „Die anderen spielen den König“, das gilt für die kleine Prinzessin und ihre Spielkameraden wie in der großen Politik: wenn nicht Hofschranzen und politische Gehilfen die Korona des Patriarchen erzeugen, wenn es seine Feinde nicht sehr viel Mut kostet, sich ihm und seinem Klüngel entgegenzustellen, fehlt ihm das Wichtigste zu seiner Rolle. Und damit sind wir an einem wichtigen Punkt gelandet: beim Dominanzprinzip.
Leiden oder triumphieren, Amboss oder Hammer sein“ – das ist die klassische Entscheidung, bisweilen auf die platte, mechanische Frage nach der Macht, die Frage „Wer – wen“ verkürzt. Damit ist der systematische Fehler unserer Wahrnehmung, die Reduktion komplexer Prozesse auf simple Kausalitäten, total und brutal zum politischen Prinzip erhoben. Leider haben die katastrophalen Folgen solcher Machtpolitik wenig Einsicht bewirkt. Dem systematischen Fehler folgt der Auswertungsfehler1. Aber es ist mit dem engen Blick auf ewige Abfolgen von Ursache und Wirkung eben noch viel schwieriger, als mit dem auf Sonnenauf- und untergang: Wir sehen ja die Wechselwirkungen von Umgebung, Auge und Gehirn nicht, wir sehen, was uns unser Gehirn sehen lässt. Und an unserem Verhalten erscheint uns nichts so selbstverständlich wie Dominanz.
1 Barbara Tuchman „Die Torheit der Regierenden“

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Samstag, 11. Oktober 2014

Enteignung

Herrenstraße26Die Ängste sind wieder da. Was einem zugeeignet wurde von Vater und Mutter, von Generationen fleißiger, irrender, in Krisen und Konflikte verstrickter Vorfahren, soll weg. Die Bindung an ein Dach überm Kopf soll gelöst, eine Immobilie vermarktet werden. Die festen Mauern sollen sich zu Geld verflüssigen. Ein vertrauter, nur dem Bewohner vertrauter Wert – der des Gebrauchs, des Wohlfühlens und der Geborgenheit – soll verwertbar im Sinne des gleichgültigen Marktes sein, der einer der größten Erfolge der Gattung ist - und ein Schlachtfeld der Begehrlichkeiten von Individuen, Gruppen, Korporationen, denen Heimat nichts bedeutet. Sie rechnen. Sie dominieren. Sie haben elaborierte Rechtfertigungen dafür, Leben seiner Lebensräume zu enteignen – egal ob es Häuser, Dörfer, Städte, Landschaften oder ganze Kontinente sind.

Es sind fast 50 Jahre, dass der DäDäÄrr-Staat meine Mutter und Großmutter vor die Entscheidung stellte, ihr Haus, das Haus meiner Kindheit, samt dem zugehörigen Grund mitten in der Stadt, entweder für einen Pappenstiel zu verkaufen oder enteignet zu werden. Die beiden machtlosen Frauen konnten nicht ahnen, dass die Enteignung die komfortable Lösung war. 20 Jahre später hätte ihnen das eine “Restitution” beschert – und ein Millionenvermögen. Sie hätten kaum Zeit gehabt, in den verbleibenden Lebensjahren diese Millionen auszugeben. Als meine Großmutter 1993 starb, spielte Geld keine Rolle – wie in den Jahrzehnten zuvor. Wir nahmen voneinander Abschied in Liebe.

Meine Mutter lebte ab 1996 – betreut von meiner Schwester – fern jenem Ort, wo die als Verkauf getarnte Enteignung stattgefunden hatte, zur Miete. Die Eigentümerin des Hauses gehört zu den wenigen Menschen mit einer ganz persönlichen Haltung zum Grundgesetz: Eigentum verpflichtet! Sie wurde zur Freundin der Familie – und das Haus war gesegnet. Die alte Dame malte die schönsten Bilder, deren sie fähig war, sie hängen immer noch erheiternd und farbenfroh in Gängen und Treppenhaus. Die Eigentümerin wusch den Zigarettengestank aus den Gardinen ihrer “Mietpartei”, obwohl sie selbst das Rauchen verabscheut.

Ich muss in diesen Tagen meinen Anteil am Haus meines Vaters verkaufen; sein Erhalt übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der Geschwister, denen es gehört. Keiner von uns hat die Chance eines “Erwirb es, um es zu besitzen”. Vielleicht war unser Vater zu ehrgeizig, als er baute. Unsere Vorfahren – ihre Geschichte habe ich im “Blick vom Turm” aufgeschrieben – wussten wenig über die Nöte und Bedürfnisse nachfolgender Generationen. Wir müssen ihren Erwartungen nicht gerecht werden. Aber es hinterlässt mir ein tiefes Gefühl von Unbehagen und Trauer, welche Defizite ich den Nachkommen hinterlasse, wenn ich jetzt das Haus meines Vaters verschleudere, “weil der Markt mich dazu zwingt”.

Donnerstag, 1. November 2012

Kapitel 2 (5)

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So wie der Günstling des Königs dessen Zorn muss der Angestellte fürchten, gegen die Maßgaben seiner Firma, gegen die ihm zugewiesenen Rolle in der Hierarchie - im Gestell - zu verstoßen. Das Schicksal eines einzelnen Unternehmens braucht ihm dabei nur so lange wichtig zu sein, als ihm seine Dienste hinreichend vergolten werden und nicht ein komfortablerer Platz in einem anderen Unternehmen, einer Behörde oder sonst einer Organisation winkt.
Der schnelle Zusammenbruch der DDR 1989 und die unaufhaltsame deutsche Vereinigung unter denWir sind ein Volk“ - Rufen der Bevölkerung des hinfälligenArbeiter-und-Bauern-Staateshaben weniger mit nationaler Sehnsucht - umso mehr mit der Tatsache zu tun, dass die DDR ein fast perfektes Gestell war. Spätestens 1972 waren im Osten Deutschlands die Unternehmer als soziale Schicht eliminiert. Freiberufler waren fast bedeutungslos. Imreal existierenden Sozialismus“ (zu diesem Begriff wird später noch einiges zu sagen sein) gab es praktisch nur Angestellte. Deren Loyalität gegenüber dem Großkonzern DDR mit seinen vielen Tochterunternehmen - den Kombinaten der Industrie, den Produktionsgenossenschaften in Handwerk und Landwirtschaft, den Heerscharen von Behördenangestellten - war durch nichts leichter und zugleich nachhaltiger zu erschüttern, als durch die Aussicht auf viel bessere Anstellungsverhältnisse in den Unternehmen und Organisationen des Westens. Deren marktwirtschaftlicher Erfolg erschien via Werbefernsehen und Intershop zum Greifen nah und zugleich unerreichbar fern.
Tatsächlich trägt die deutsche Vereinigung Züge derfeindlichen Übernahmeeines bankrotten Unternehmens durch einen starken Konkurrenten. Besonders deutlich wird das im jahrelangen, von Korruption, Schiebungen, Erpressungen begleiteten Agieren der „Treuhandanstalt“. Und nicht zuletzt dieStaatsdienerin Polizei, Armee und Verwaltung verhielten sich in der Mehrheit vollkommen anpassungsbereit gegenüber einer Gesellschaft, die ihrer alten Unternehmensführung als schlimmster Feind galt, alsKlassenfeind“ - in der quasireligiösen Ideologie der totalitären Parteien also als der Teufel. Das schmälerte selbst bei hohen Offizieren, die bis zum Herbst 1989 glaubwürdig ihre Bereitschaft zum Atomschlag gegen den Klassenfeind bekundeten, nicht die selbstgewisse Bereitschaft, sich bei Militär, Polizei oder Geheimdienst der fusionierten Deutschland AGeben des Teufelsanstellen zu lassen. Der Erfolg gab vielen Recht.
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Freitag, 30. Dezember 2011

Ein Christbaum–Leben

Tatsächlich musste eine Chinesin kommen, eine Frau also, die zum Christentum im Allgemeinen und Weihnachten im Besonderen überhaupt kein Verhältnis hat, um dieses Fest, seine religiösen Wurzeln, seine Rituale völlig neu zu erleben.

PaarWeihnacht2011

Weihnacht 2011

Es mag auch mit dem Altern zusammenhängen, mit intensiverem Erinnern an kindliche Weihnachten, dass einer wieder echte Kerzen im Grün und Gold brennen sehen will – in all meinen Jahren als Single hatte es mir wenig bedeutet. Nun, im Zusammenleben mit Qin aus Nanking, gab es immer einiges zu erklären und zu erzählen, wenn wir Kirchen und Klöster besuchten, wenn der Dezember kam mit Adventlichtern, mit einem Stall samt Pony, Ziegen, Kuh und Krippe auf dem Christkindlesmarkt, einer Plastikversion desselben vor der brutalst kitschigen Touristenschänke in der Fußgängerzone, wenn der alte “Da Bi Zi”* bereit war, in Kirchenlieder einzustimmen, obwohl er der Institution Kirche schon vor Jahrzehnten Adieu gesagt hat.

Bei diesen kultur- und religionshistorischen Erzählungen kam ich zwangsläufig auf die Botschaft vom Kind, das der Menschheit Frieden, Erlösung von Schuld und Sünden verspricht, dem Tod seinen Schrecken nimmt. Die Geburt Christi geht in der Bibel mit Lichterscheinungen einher, sie geschieht mitten in der Nacht, Hirten und Weise aus dem Morgenland werden erleuchtet, kurz: das Wichtigste an diesem Geschehen ist eigentlich, dass etwas Erhellendes, Beglückendes nicht menschlicher Vernunft entspringt, sondern als Geschenk Gottes unter wahrlich himmelschreienden biologischen und physikalischen Ungereimtheiten in die Welt kommt.

Im Kern der Botschaft gibt es indessen einen Zusammenhang zwischen Licht, Leben und Liebe – es gibt Ähnliches in fernöstlichem Glauben.

Nachdem ich in diesem Jahr wieder für Qin einen Kinderzeit-Weihnachtsbaum mit Kerzen statt elektrischer Beleuchtung geschmückt habe, nachdem wir den Zauber der lebendigen Flammen, des Dufts, des Abbrennens und Verlöschens gemeinsam bestaunt haben, hätten wir dem etwas altbacken wirkenden Lied vom Tannenbaum noch ein paar Strophen hinzuzufügen: Darin wäre vom Geschenk zu reden, auf brennende Kerzen achten zu dürfen. So ein Christbaum alter Fassung ist ein Sicherheitsrisiko, er verlangt uns – von der richtigen Platzierung der Glaskugeln, Glöckchen, Ketten zwischen den Zweigen, auf dass sie nicht den Flammen zu nahe kommen, über die Pflicht, alles beim Abbrennen immer im Auge zu behalten, bis zum Reinigen, Pflegen, neu Bestücken der Kerzenhalter – ein Mehr an Mühe und Aufmerksamkeit ab. Dafür werden wir belohnt: Der Baum und sein Fest leuchten nicht nur nebenbei. Wir nehmen uns Zeit für ihn und gewinnen Zeit für uns, unersetzliche, liebevolle Zeit – die sich der Erinnerung an die Christbäume der Kindheit verbindet.

Es sind Bäume fürs Leben.

Weihnacht 1953

Weihnacht 1953

*)chinesisch: “Großnase”

Sonntag, 16. Oktober 2011

Elias Canetti und die Magie der 99%

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Warum sollte ausgerechnet DAS nicht fortwirken: Menschen fühlen sich durch anhaltendes Fähnchenschwenken und das Tragen von Parteiabzeichen überlegen, stark, anderen gegenüber im Recht, nachgerade ermächtigt, Forderungen zu erheben und sie – nötigenfalls mit Gewalt – durchzusetzen?

Es wirken ja alle anderen Formen menschlichen Verhaltens auch fort: die Neigung zu patriarchalischer Vorherrschaft, die Polygamie, feudaler Pomp, alle irgend denk- und vorstellbaren Formen der Grausamkeit, Aberglaube, Balzrituale, religiöse Verfolgungen … Gott sei Dank auch Hilfsbereitschaft, Fairness, Kooperation.

Ein wunderbar erhellendes, vollkommen subjektives, dennoch mit wissenschaftlicher Akribie verfasstes Buch über solche Fragen hat Elias Canetti geschrieben: “Masse und Macht”, es erschien 1960.

Der Einzelne sehnt sich danach, in der Masse (der Herde, der Horde, der Meute, dem Mob …) geborgen zu sein, die eigene Schwäche durch vermittelte, gebündelte Schubkräfte der Gemeinsamkeit zu überwinden. Diese Sehnsucht hat eine lange evolutionsgeschichtliche Berechtigung. Allerdings konkurriert sie mit einem mir (noch stehe ich damit nicht gänzlich allein) persönlich sehr wichtigen Impuls: Dem individueller Freiheit und Verantwortlichkeit fürs eigene Handeln. Die Konkurrenz der Impulse löste lebenslanges Nachdenken und fortwährende Prüfungen meines Sozialverhaltens aus; ich darf sagen, dass sie nicht ganz unfruchtbar waren.

“Canetti, der Ideologien verabscheut, teilt seine Weltanschauung nicht offen mit. Erkenntnis muss der mündige Leser selbst gewinnen” vermerkt der Artikel in der Wikipedia, und diese Haltung gefällt mir. Wir brauchen mündige Leser und am subjektiven Erleben geschulte Welteinfühlung statt ideologisch ausgerichteter Weltanschauung. Wir brauchen selbstbestimmtes Handeln in Konflikten ohne den Schutz von Fahnen und Parteiabzeichen. “Mehr Demokratie wagen” müsste jeder genau da, wo er verantwortlich ist für sein Leben und das seiner Nachbarn, seiner Familie, seiner Kollegen. Leute, die für Menschenrechte in fernen Weltgegenden hierzulande gefahrlos Plakate hochhalten, im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz aber den Mitmenschen als Störfaktor oder Stimmvieh behandeln, sind einfach unglaubwürdig. Wer als “Linker”, “Liberaler”, “Christdemokrat” oder neuerdings “Pirat” die Medien beflaggt, die Menschheit nach Flagge in passende Schubladen sortiert, auf handliche Feindbilder zurechtstutzt, zum Abschuss freigibt, meint alles mögliche, wenn er von Demokratie redet, aber bestimmt nicht die Freiheit und Pluralität von Meinungen.

Demokratie verlangt dem Einzelnen sehr viel ab – womöglich sogar den Verzicht aufs wohlige Gefühl, in der Masse geborgen zu sein. Wenn die Fähnchen und Abzeichen Konjunktur haben, schrillen bei mir jedenfalls die Alarmglocken.

Donnerstag, 16. Juli 2009

Der Charme der Stasi


Die FAZ (nicht nur sie) berichtet über Tausende Karrieren ehemaliger hauptamtlicher und inoffizieller Stasimitarbeiter im öffentlichen Dienst. Muss man sich darüber wundern?
Brauchbare Anpasser sind eine gehätschelte Spezies in Verwaltungen - auch in Unternehmen. Man muss sich über solche Karrieren also nicht wundern, auch nicht über die Tendenz zum Verniedlichen der DäDäÄrr. Sie ist längst ein selbstverständlicher Impuls quotengesteuerter Medienidiotie. Es sind nicht die Clubs und Gesellschaften von Ex-Stasis, Ex-Grenztruppen, Ex-Was-Weiß-Ich-Für-Machtstrukturen, die Furcht einflößen, es ist vielmehr die wachsende Bereitschaft, qualifizierte Minderheitsmeinungen zugunsten des rituellen Blökens von Umfrageherden zu unterdrücken. Der Charme der Kontrollen und Verbote als vermeintliche Konfliktlöser wächst. Dagegen schwindet der Wille, das demokratische Gemeinwesen mit seinen Kontroversen als mühevolle aber lohnende Aufgabe anzunehmen

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