Donnerstag, 20. Oktober 2011

Führung: Wechselspiel statt Weisung

 

„Gedankenfreiheit“ – ist das ein dem Menschen zu gestattendes oder zu verweigerndes Rechtsgut, wie Schiller den Marquis Posa fordern lässt?

Ist es eine individuelle, durch Bildung zu befördernde Fähigkeit, wie sie der große „Lexikon-Meyer“ erstrebte?

Geht es nur um die Möglichkeit, seine Gedanken frei äußern zu dürfen?

Womöglich geht es um etwas ganz anderes: darum, das Irren, den Fehler aus der Versagens- und Schamecke zu holen, eigen- und querständiges Denken ohne Rücksicht auf vermeintlich noch so gesicherte Wahrheit schon in der Schule zur Kulturtechnik zu entwickeln.

Womöglich könnte es sich als äußerst fruchtbar erweisen, Konkurrenz und Kooperation nicht als Gegensatz zu sehen, sondern als Erfolgsrezept innerhalb eines Zusammenspiels. In jedem Mannschaftssport kann man erleben, dass der Einzelne durchaus in Konkurrenz zu anderen sein Bestes gibt, dass er aber zugleich auch die Fähigkeit entwickeln muss, die Schwächen anderer zu kompensieren, er muss für die anderen da sein, ihnen zuarbeiten: das trainiert ganz besondere Qualitäten des Einzelnen.

Er muss andererseits allein entscheiden und frei heraus sagen können, wenn er unzufrieden ist – nicht nur zum “passenden Zeitpunkt”: das trainiert ganz besondere Qualitäten der Mannschaft.

Wir leben in einer Zeit, wo die Qualität solcher Organisations- und Kommunikationsprozesse über unsere Zukunft entscheidet. Unter vielen Publikationen zum Thema empfehle ich “Feel it! – So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen” von Andreas Zeuch und “Affenmärchen” von Gebhard Borck.

Die Krisen der Finanz-, Wirtschafts- und Bildungseinrichtungen, die Handlungsunfähigkeit der Politik verlangen nach neuem Denken, nach Transparenz, nach verantwortungsbewusstem Handeln des Einzelnen anstelle weisungsgebundener Verantwortungslosigkeit in undurchsichtigen Apparaten.  Die Konflikte unserer Welt sind nicht lösbar, so lange nur die Geldmaschinen am Laufen gehalten werden. Und die Lösungen liegen nicht auf der Straße.

Sonntag, 16. Oktober 2011

Elias Canetti und die Magie der 99%

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Warum sollte ausgerechnet DAS nicht fortwirken: Menschen fühlen sich durch anhaltendes Fähnchenschwenken und das Tragen von Parteiabzeichen überlegen, stark, anderen gegenüber im Recht, nachgerade ermächtigt, Forderungen zu erheben und sie – nötigenfalls mit Gewalt – durchzusetzen?

Es wirken ja alle anderen Formen menschlichen Verhaltens auch fort: die Neigung zu patriarchalischer Vorherrschaft, die Polygamie, feudaler Pomp, alle irgend denk- und vorstellbaren Formen der Grausamkeit, Aberglaube, Balzrituale, religiöse Verfolgungen … Gott sei Dank auch Hilfsbereitschaft, Fairness, Kooperation.

Ein wunderbar erhellendes, vollkommen subjektives, dennoch mit wissenschaftlicher Akribie verfasstes Buch über solche Fragen hat Elias Canetti geschrieben: “Masse und Macht”, es erschien 1960.

Der Einzelne sehnt sich danach, in der Masse (der Herde, der Horde, der Meute, dem Mob …) geborgen zu sein, die eigene Schwäche durch vermittelte, gebündelte Schubkräfte der Gemeinsamkeit zu überwinden. Diese Sehnsucht hat eine lange evolutionsgeschichtliche Berechtigung. Allerdings konkurriert sie mit einem mir (noch stehe ich damit nicht gänzlich allein) persönlich sehr wichtigen Impuls: Dem individueller Freiheit und Verantwortlichkeit fürs eigene Handeln. Die Konkurrenz der Impulse löste lebenslanges Nachdenken und fortwährende Prüfungen meines Sozialverhaltens aus; ich darf sagen, dass sie nicht ganz unfruchtbar waren.

“Canetti, der Ideologien verabscheut, teilt seine Weltanschauung nicht offen mit. Erkenntnis muss der mündige Leser selbst gewinnen” vermerkt der Artikel in der Wikipedia, und diese Haltung gefällt mir. Wir brauchen mündige Leser und am subjektiven Erleben geschulte Welteinfühlung statt ideologisch ausgerichteter Weltanschauung. Wir brauchen selbstbestimmtes Handeln in Konflikten ohne den Schutz von Fahnen und Parteiabzeichen. “Mehr Demokratie wagen” müsste jeder genau da, wo er verantwortlich ist für sein Leben und das seiner Nachbarn, seiner Familie, seiner Kollegen. Leute, die für Menschenrechte in fernen Weltgegenden hierzulande gefahrlos Plakate hochhalten, im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz aber den Mitmenschen als Störfaktor oder Stimmvieh behandeln, sind einfach unglaubwürdig. Wer als “Linker”, “Liberaler”, “Christdemokrat” oder neuerdings “Pirat” die Medien beflaggt, die Menschheit nach Flagge in passende Schubladen sortiert, auf handliche Feindbilder zurechtstutzt, zum Abschuss freigibt, meint alles mögliche, wenn er von Demokratie redet, aber bestimmt nicht die Freiheit und Pluralität von Meinungen.

Demokratie verlangt dem Einzelnen sehr viel ab – womöglich sogar den Verzicht aufs wohlige Gefühl, in der Masse geborgen zu sein. Wenn die Fähnchen und Abzeichen Konjunktur haben, schrillen bei mir jedenfalls die Alarmglocken.

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