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Donnerstag, 11. September 2025

Erwünschte Entfernung

Mit fortschreitendem Alter stellt sich immer dringlicher die Frage, wofür einer seine Energien einsetzen will, von welchen Arbeitsfeldern er sich besser zurückzieht, weil Aufwand - also knapper, kostbarer werdende Lebenszeit - und Nutzen - also der Gewinn an Zufriedenheit, zu dem wohl auch das Einkommen beiträgt - nicht mehr in vernünftigem Verhältnis stehen.

Im Journalismus war mein erwartbarer Gewinn an Zufriedenheit schließlich ebenso dramatisch geschrumpft wie meine Möglichkeiten, unerfreulichen Entwicklungen auf diesem Arbeitsfeld zu wehren. Die Situation war - insbesondere was das Fernsehen anlangt - jener zu vergleichen, in der ich mich seit Anfang der 80er Jahre in der DäDäÄrr befand: Mit unvertretbarem Kraftaufwand versuchte ich damals, quadratzentimeterweise auf Theaterbühnen Handlungsfreiheiten zu behaupten. Das erwies sich als sinnlos, weil immer genügend Bereitwillige verfügbar waren, mich zu verdrängen, meine Positionen zu besetzen. Der Staat konnte meine jederzeitige Ersetzbarkeit zur Erpressung nutzen, er versuchte, mich in den Mainstream des Gehorsams zu zwingen. Ich gab nicht nach, ich stieg aus. Die Nachfolger machten Karriere - einige besonders Stromlinienförmige auch nach dem Zusammenbruch der DäDäÄrr im vereinigten Deutschland; nicht nur sie verdarben mir die Lust, jemals wieder an Stadttheatern zu inszenieren. Mit der Hochachtung für die oppositionellen Autoren, Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und anderen mutigen Mitarbeiter der Theater in totalitären Staaten wuchs meine Enfernung zu den bequemen Salonrevoluzzern des Westens. Ähnliches hat Liao Yiwu in China erlebt. Das Radiofeature über ihn und seinen Roman "Für ein Lied und hundert Lieder" zeigt, wie nahe sich der aus China und der aus der DäDäÄrr "entfernte" sind.
Ersetzbarkeit ist das Mittel der Erpressung in allen Sozialsystemen - das war keine gänzlich neue Einsicht meiner Tätigkeit als Journalist in den vergangenen zwanzig Jahren. Diese Einsicht, ihre sozialen Hintergründe, ihre Konsequenzen flossen in mein erstes Buch "Der menschliche Kosmos" ein: 2006 begann mit seinem Erscheinen mein Ausstieg aus dem Fernsehen. Es hatte wirkliche Höhepunkte, Erfolge gegeben, die dem Funktionieren demokratischer Strukturen und dem Auftrag öffentlich-rechtlicher Anstalten Ehre machten.
Die Entwicklung aber macht aus Journalisten zunehmend Erfüllungsgehilfen. Quotenvermutungen bestimmen fast ausschließlich, welche Themen ins Programm kommen; statt journalistisch distanzierter Haltung beim Berichten und womöglich quer stehender eigener Meinung beim Kommentieren richten sich Stellungnahmen an minder qualifizierten Prominenten oder politisch korrekten Experten aus. Es ist egal, ob die vermeintlichen Gewissheiten von heute sich morgen als Unsinn erweisen: Hauptsache schnellstens auf der "richtigen" Seite dabeisein, Hauptsache Quote.
Für mich wurde es höchste Zeit, mich aus diesem Geschäft zu verabschieden, nur noch das zu tun, was mit meiner Haltung vereinbar ist: So wenig wie der staatlich verordneten Monokultur im Osten werde ich der auf Konformismus zielenden Monokultur des Mainstreams zuarbeiten. Es gibt Wichtigeres - sogar Wichtigeres als Geld.

2022 ergab sich die Möglichkeit, als Autor für das von Oliver Gorus neugegründete Magazin "Der Sandwirt" zu arbeiten, im Oktober 2024 erschien - auch als Podcast - eine Version "3.0" von "Der menschliche Kosmos". Danach stellte sich die Frage vom Anfang dieses Artikels neu. Die insbesondere und seit dem Corona-Geschehen veränderte politische und Medienlandschaft legen mir nahe, meine "Restlaufzeit" nicht in den Schützengräben ideologischer Kriege zu verbringen. Deshalb werde ich dieses Weblog nicht weiterführen.

Gute Wünsche an alle Leser: Bleiben Sie selbständig im Denken und unerschütterlich im Ringen um die Freiheit - nicht nur der Meinung.

Samstag, 29. Juli 2023

Der Untergang von Weltreichen und ihre Denkmäler 

1992 abgerissen: Leninstatue in Ostberlin 
Immer standen am Anfang kollektiver Selbstmorde – und jeder Griff nach der Weltherrschaft riskiert ihn – überlebensgroße Führungsfiguren und eine Ideologie. Nicht selten wurden ihnen schon frühzeitig mit ersten Erfolgen, jedenfalls wenn sie anhielten, Monumente errichtet. Die der Architektur – Tempel, Kathedralen, Moscheen, Paläste, Wallfahrtsorte – überlebten Jahrtausende ebenso wie die „Heiligen Bücher“ der Juden, Christen, Muslime. Der Begriff „Buchreligion“ sagt es. Die Schriften eines Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Zedong begründeten eine Ersatzreligion von nicht weniger suizidaler Potenz. Nach vorübergehendem Sturz infolge massenhafter Gräuel unter ihrer Führerschaft kommen sie wieder zu Ehren, und architektonische Monstrositäten des Sozialismus sind Sehenswürdigkeiten wie die Marx-Statue in Trier, ein Geschenk von Xi Jinping.

All das sind Versuche, flüchtiges, vergängliches Leben und Denken – gekoppelt an besondere materielle und informelle Macht – unvergänglich zu machen. Flüchtige Zeit wird mit einem auf Ewigkeit zielenden Gewicht beladen, die Erinnerung mit einem Höchstmaß an Trägheit beschwert, auf dass die Ideen und Handlungen der Großen fortwirken, wenn die Nachwelt sich darüber verständigt, was zu erlangen, was zu vermeiden ist. Dabei gerinnt die Sprache, erstarrt in Phrasenritualen, wird in Stereotypen gestanzt, zu Worthülsen gedrechselt, wird ihres Sinnes und ihrer Sinnlichkeit beraubte verbale Uniform versteinernder Verhältnisse. „Kaderwelsch“ nannte Bertolt Brecht das. Auf die Politbürokraten der DDR gemünzt passt dieses Wort heute auf all jene doktrinären Bewegungen, die – mehr oder weniger staatlich geduldet oder gar gefördert – Kriege um die Deutungshoheit führen. Ihnen allen ist gemeinsam der kollektivistische, korporatistische, etatistische Impetus. Das freie Individuum, dessen Recht, seine Meinung zu äußern und den Verfall unter Fundamenten und hinter Fassaden der je herrschenden Ordnung bloßzulegen, eigene, selbständige Wege zu gehen, ist ihr größter Feind.

Führungsfiguren werden – fast wie Gottheiten – Stoff künstlerischen Schaffens. Bisweilen nehmen sie gottähnliche Züge an. Wer Bauten, Porträts, Standbilder, Lobpreisungen jeder medialen Form in die Welt setzt, darf darauf vertrauen, selbst ein wenig in der Aura zu glänzen, die er in Denkmälern materialisiert. Das kann schiefgehen wie bei Leni Riefenstahl, Arno Breker und literarischen Apotheosen der Tyrannei, aber selten sind die Folgen für Schöpfer und Produkt so irreparabel wie der Tod jener, die in den kollektiven Selbstmord mitmarschierten.

Manche Mythen verorten seltsame Schatten in einem besonderen Reich: Dort sind Schuld, Unrecht aller Art, aber auch Versagen, Furcht und Schrecken, Lug und Trug, Neid, Missgunst, Untreue – kurz: all jene dunklen Kräfte – beheimatet, von denen Heldendenkmäler gereinigt erscheinen. Als wolle man die Kräfte des Todes, des ewigen Wandels, das Ungreifbare und Flüchtige dort bannen. Wer errichtet ein Denkmal, das den Verfall feiert: von der Witterung zermürbt, verrostend, dahinbröckelnd, bald verschwunden? Es mag einzelne geben – vielleicht angeregt von Joseph Beuys –, durchgesetzt haben sie sich nicht.

Keines der Reiche in der menschlichen Geschichte konnte überdauern. Manche blieben an Denkmälern ihrer Tätigkeiten, Führer, Kriege erkennbar, auch sie vom unvermeidlichen Verfall gezeichnet, manche kaum mehr zu identifizieren. Die Grundimpulse der Herrschaft aber blieben mitten im materiellen und ideellen Wandel erhalten, sogar Herrschaftsformen und -methoden finden sich fast überall – zeitlos – wieder, nur neue Technik kam hinzu.

All das folgt dem Drang des Menschen zum Erobern ebenso wie Seefahrten, das Bauen von Fluggeräten und die zahllosen Konflikte, Kämpfe, Kriege, geführt um die Macht und ihren Erhalt. Das Denken muss sich dabei den beiden Grundimpulsen – Erlangen und Vermeiden – fügen: Es will in der Dimension flüchtiger Ideen dominieren, lässt Risiken geringer oder größer erscheinen, bevor über Handeln oder Zögern, Einlenken oder Durchsetzen rational entschieden wird. Man sollte meinen, dass je bedeutsamer ein Unternehmen, desto robuster das Theoriegebäude sein sollte, auf dem ein Entschluss beruht.

Das Dilemma besteht aber darin, dass über die Zukunft – also den Erfolg oder Misserfolg – niemals volles Wissen zu erlangen ist. Egal ob jemand allein oder in einem Kollektiv agiert: die Kraft elementarer Impulse triumphiert immer wieder über komplexe Erwägungen des Für und Wider. Und ein besonders schwer zu kontrollierender Impuls ist „Gewalt – Macht – Lust“.

Mehr dazu auf meiner Website 

Sonntag, 16. Mai 2021

Niemals fertig, immer besser: ein Buch zum Mitdenken

 So war's von Anfang an gedacht: Wer liest, soll fragen. Und genau das hat auch der Autor getan, immer wieder nachgefragt, die veränderten Kontexte der Zeit berücksichtigt, neues Wissen und die intelligenten Beiträge anderer aufgegriffen.

Darüber ist er 70 Jahre alt geworden - ein alter weißer Mann - und dass er einmal weise werden könnte, erscheint ihm ebenso schwer vorstellbar wie dass er Kindheit, Jugend, Studium und Lebenspraxis mit allen Sensationen, Fehlern, Überraschungen, Niederlagen und Glücksmomenten für wiederholbar, geschweige korrigierbar hielte. Leben ist Geschenk - und was daraus wird, hängt von derart vielen, unbeeinflussbaren Faktoren ab, dass einam nur die Wahl bleibt, lebenslang zu lernen.


Schönstes Geschenk zum 70sten: Die Neufassung von "Der menschliche Kosmos", und dass es wieder im Salier Verlag Leipzig erschien, mit dem mich seit 2006 alle meine Bücher verbinden.

Neu ist - neben vielem anderen - das Vorwort. Weil es von Herzen kommt, sei's hier als neue Leseprobe eingefügt. Lust auf mehr kann sich holen, wer die im Blog veröffentlichten Kapitel der Erstausgabe von 2006 anschaut. Viel Vergnügen.

Vorwort in eigener Sache - aber nicht nur

Im Jahr 2016 – ich hatte gerade das Rentenalter erreicht – machte ein Freund namens Hein der Frau meines Herzens einen unwiderstehlichen Antrag. Sie wies ihn ab. Er hinterließ ihr als Andenken einen Flug im Rettungshubschrauber, allerlei bunte Komaträume und uns beiden viele, viele Gründe uns zu freuen: Dass Shi Qin wieder selbständig atmete, das Bewusstsein wiedererlangte, allerlei Schläuche loswurde, die sie am Leben gehalten hatten, zum ersten Mal vom Rollstuhl aus die Koi im Teich und die wilden Erdbeeren im Park der Klinik betrachtete. Fünf Monate nach dem Antrag machte sie die ersten Schritte ohne Rollator am Ufer der Oos im schönen Baden-Baden, trat in einen Hundehaufen – was angeblich Glück bringen soll, uns aber sogleich erinnerte, dass selbst dieses Paradies nicht frei von Übeln ist.

Viele wirkliche Glücksmomente kamen seither hinzu, früher Selbstverständliches wurde lustvolles neues Erleben, gar Abenteuer. Wir sind Ärzten, Physiotherapeuten, Logopäden, Pflegekräften, Freunden, zahl- und namenlosen Helfern im Hintergrund von Herzen dankbar, weil es ohne sie dieses Glück nicht gäbe.

Gut möglich, dass es auch die Neufassung dieses Buches nicht gäbe, denn zum einen halfen Kenntnisse und Erfahrungen, die schon die Erstauflage enthielt, bei der Rehabilitation; zum anderen wurde die Strategie des Froschs im Sahnetopf bestätigt: Wenn du dich nicht aufgibst, sondern strampelst, wird aus der Sahne Butter, dann kommst du aus dem fetten Elend heraus: froh und munter, sogar um einiges stärker und klüger.

Und da die Beweggründe nicht entfielen, aus denen ich „Der menschliche Kosmos“ geschrieben habe, weder die Sorgen, Konflikte und Ärgernisse noch die ermutigenden, bewährten Methoden des Perspektiv- und Strategiewechsels, dürfen meine Frau und ich uns aufs Erscheinen von „Kosmos 2.0“ freuen.

Auch dabei hatten wir sachkundige Hilfe und danken unseren Freunden und Verlegern: Hans-Jürgen Salier nahm schon 2004 mein Manuskript in seinem Hilburghäuser Verlag Frankenschwelle an, sein Sohn Bastian publizierte es als eines der ersten im 2006 neugegründeten Salier Verlag in Leipzig – der Anfang einer wunderbaren Zusammenarbeit.

Bald werde ich 70. Der Blick aufs Weltgeschehen bietet nur hartgesottenen Ignoranten rosige Aussichten, und nur Frösche, die gern in fetter Sahne ersticken wollen, können die Füße ruhig halten. Keine Ahnung, wie lange Zeit und Kräfte für anhaltend munteres Strampeln ausreichen. Keine Ahnung, wie groß der Topf ist, wieviele andere am rettenden Boden unter den Füßen mitarbeiten. Immerhin gibt es sie. Vielleicht gehören Sie, geneigte Leser, dazu: Es wäre uns eine große Freude. Freund Hein, alias „der Gevatter“ darf im Buch nochmal auftreten – er hat aber auch hier nicht das letzte Wort.

 

Donnerstag, 22. März 2018

Online Lesen: "Der menschliche Kosmos"

Vor längerer Zeit hatte ich zum Thema "Gratiskultur" gepostet. Der Entschluss, mein Buch "Der menschliche Kosmos" ausschnittweise hier im Weblog zu veröffentlichen, ist konsequent, indessen keineswegs uneigennützig, denn dabei kann ich den Text aus dem Jahr 2006 abschnittsweise überarbeiten; dafür hat sich seither angesichts globaler, mehr noch politischer Entwicklungen in Deutschland reichlich Stoff angesammelt. Wer mag, kann mit dem Originaltext vergleichen.

Das Buch erschien erstmals 2006 - es wächst
VORWORT

Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.
Das gilt für den Einzelnen, der kaum längere Zeit ungesellig leben kann, wenn er essen, trinken, sich warm halten und soziale Grundbedürfnisse befriedigen will.
Das gilt für die Gattung in einer enger werdenden Welt mit knappen Ressourcen und begrenzten Räumen. Zwar werden natürliche Katastrophen unsere Spezies immer gefährden – niemals werden sich Erdbeben, Überflutungen, Brände, Seuchen, Einschläge von Asteroiden oder kosmische Strahlung gänzlich beherrschen lassen - aber wir stehen heute mehr denn je vor der Frage, ob nicht menschliches Handeln, ob nicht seine Formen sozialer Interaktion das eigentliche Problem sind.
Können wir Konflikte zwischen konkurrierenden Gruppen - Nationen, Kulturen, Ethnien, Religionen, Konzernen, Banken, Regierungen, Parteien oder sonstiger (an Stämme der Steinzeit erinnernder) Organisationsformen – anders als durch Gewalt lösen? Sind nicht aggressive Strebungen, Dominanzwünsche und Gewalt elementare Strategien des Überlebens?
Gewalt als Schlägereien, Revolten, Kriege und Terrorattacken hat es immer gegeben, sie dauert fort und findet neue Formen im Cyberspace. Der Einzelne hatte wenig mehr als den Zufall auf seiner Seite, wenn es ums Überleben ging. Die naturwüchsige Strategie von Herden, Schwärmen, Sippen, Horden, Banden verbesserte seine Chancen, alle profitierten vom Schutz, vom Fortbestand der Gemeinschaft, Verlierer blieb immer der Einzelne. Ähnlich verhält es sich mit Strategien der stammeskulturell geprägten Meute, des Mobs, der Staaten, Unternehmen und Verbände aller Art.
Mit der Entwicklung moderner Staaten und Firmen samt Heeren von Arbeitern und Angestellten wird das Phänomen struktureller Gewalt interessant: Es gibt Organisationen, die nach außen und innen rücksichtslos ihre Interessen zur Selbsterhaltung durchsetzen - gegen Leib und Leben des Einzelnen, gegen die Konkurrenz, das Gemeinwesen und gegen die Natur.  Sie trachten danach, sich mit besonderen Rechten auszustatten - auf nationaler, zunehmend supranationaler Ebene, so dass weder sie selbst noch irgend eines ihrer Mitglieder für jede Art Fehlleistung in Haftung zu nehmen wären. Solche Organisationen versuchen mit legalen oder kriminellen Mitteln, die Grundlage allgemeinen Rechts zu usurpieren: das "Gewaltmonopol des Staates". Dass Konflikte eskalieren, dass sie in vollkommene Zerstörung münden, nehmen sie schlimmstenfalls in Kauf. Sie stellen die ihnen zugehörigen Menschen von Verantwortung frei und machen sie zu willfährigen Handlangern.
Der Vorgang wird an den totalitären Systemen des Kommunismus und Nationalsozialismus deutlich. Religiöse oder andere ideologische Verklärungen von Gewalt gab es seit je - hier nahmen sie im Deckmantel von Heilsversprechen an ihre Gefolgschaft die Dimension von Genoziden und Weltkriegen an. Angesichts globaler Auswirkungen, die seit dem 20. Jahrhundert sowohl mit Kriegen unmittelbar, als auch mit Angriffen auf Energie- oder Finanzwirtschaft, Informations-und Versorgungssysteme einhergehen, ist zu fragen, ob Konflikte zwischen Menschen auch künftig so unvermeidlich und unbeherrschbar bleiben wie Naturereignisse.
Lässt sich das Verhalten von Milliarden Menschen nicht auf ein friedliches, ausbalanciertes Zusammenleben hin beeinflussen, auf kooperative Strategien der Individuen und ihrer Organisationen, zum Nutzen der Gattung mit ihrer Kultur (Technik) und der sie umgebenden Natur? Derzeit erscheint das - mit dem Blick auf politische Realitäten - als Wunschtraum.
Zweierlei zumindest ist sicher:
  • Konflikte sind unvermeidlich; sie erzeugen die Dynamik zwischen Gruppen von Menschen ebenso wie zwischen Individuen und dem gesamten Umfeld, mit dem wir alle interagieren: mit der Welt.
  • Konflikte werden in Zukunft ALLE betreffen. Die globale Wirtschaft wird es unvermeidlich geben und damit wechselseitige Abhängigkeiten aller von (fast) allen. Das betrifft die natürlichen Ressourcen ebenso wie den Informationsaustausch.
Angesichts dieser mit dem abgedroschenen Begriff "Komplexität" unzulänglich beschriebenen Lage ist nichts verdächtiger als Heilslehren.
(Fortsetzung - Abschnitt 2)

Donnerstag, 23. Februar 2017

Kapitel 6 (5)

Zurück zu Abschnitt 4
AtelierDer Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, die Absichten des Kindes nicht nur brachial („dominant“) zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Ziel zu lenken. Dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je zu dauerhaft funktionierenden Pat(end)lösungen zu kommen, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?
Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht. Um es auf ein anderes beliebtes Paradox zu bringen: „Beherrsche mich!!!“ sagt der Masochist zur Domina.
Wir können das Paradox auflösen. Dazu müssen wir nur eines tun: wir müssen akzeptieren, dass es Erde, Sonne und Menschen nur gemeinsam und als Teil des Universums gibt und dass die Zeit nicht nach unseren Uhren läuft. Was vergangen ist, ist nicht „objektiv reale Vergangenheit“ und die Zukunft ist alles andere als unbestimmt.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie blicken vom Moment ihres Todes aus zurück. Sehen Sie die Zeit nicht unabhängig mit dem Ticktack der Uhren ablaufen, sondern als verfügbare Zeit, deren Maß ausschließlich Ihre Interaktionen mit der Umgebung sind. Es ist schwer, sich vom Diktat der mechanischen Zerhacker freizumachen, nicht wahr? Dabei ist dieses Instrument erst seit etwa 200 Jahren jedermann an jedem Ort verfügbar; noch Ende des 18. Jahrhunderts machte sich der längst vergessene preußische Schriftsteller Theodor Gottlieb von Hippel in einem Theaterstück über den „Mann nach der Uhr“ lustig. Heute sind wir alle „Menschen nach der Uhr“, abhängig bis zur besinnungslosen Hatz nach Terminen. „Zeiteinteilung“ meint fast immer ein mechanisches Raster, das zu den Abläufen des Gestells kompatibel sein muss. Aber die verfügbare Zeit hat ein anderes Maß. Die Dauer eines Traumes, einer Geburt, eines Liebesaktes, eines schweren Konfliktes sind nicht mit der Stoppuhr zu messen. Denn wann genau wollten wir sie ein-, wann ausschalten? Wann beginnt der Traum vom Fliegen, wann endet er? Wenn Sie zurückblickend die Chance hätten, durch Streichen eines Ereignisses Zeit „zurückzugewinnen“ – wie wollten Sie das messen und berechnen? Dem mechanischen Verständnis fällt das scheinbar leicht:
Die betrunkene Silvesternacht von 1969 ab Schlag zwölf bis vier Uhr früh streiche ich. Ich wende mich nicht der aufreizend hübschen Babsy zu, sondern stoße mit meinen Kumpels an und gehe irgendwann sturzbetrunken aber solo ins Bett. Damit mache ich den Neujahrstag zum Ausnüchtern und die folgenden drei Monate für das Studium verfügbar, promoviere erfolgreich und sterbe in einem schönen Haus im Grünen, statt in einer Mansarde in Berlin-Schöneberg“.
Wieviel Zeit gewonnen, wieviel Zeit verloren? Wenn der Tod im Reihenhaus durch Herzinfarkt und zwanzig Jahre vor dem in der Mansarde eintritt? Wenn aber andererseits dem Doktor die Zeit erfüllt war mit Glück im Beruf und in der Familie und ihm „im Fluge“ verging, während sich der Glücksritter der Jugendjahre als alter Single dahingrämte?
Zeit ist keineswegs gleich Zeit, wie uns die Zerhacker glauben machen wollen. Vor allem aber: wir können uns „zurückblickend“ der „Vergangenheit“ nicht nähern, wir entfernen uns definitiv von ihr immer weiter. Indem wir unsere Gedanken wandern lassen, verbrauchen wir neue Zeit – die wir im Moment des Todes gar nicht mehr hätten. Sie werden mir nachsehen, dass ich Sie erst jetzt über dieses Paradox stolpern lasse – falls Sie mir nicht längst auf die Schliche gekommen sind, weil Sie das erste Kapitel oder „Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird“ aufmerksam gelesen haben. Dann wundern Sie sich auch nicht, dass „Erinnern“ nicht rückwärts, sondern vorwärts läuft – von dem Zeitpunkt an, auf den Sie zurückblicken, brauchen Sie Zeit, alles Folgende zu modellieren.
Zeit gibt es nur in Verbindung mit Interaktion. Mit Vergangenem können wir nicht interagieren, wohl aber mit „trägen Resten“ der Vergangenheit. Wir sind umgeben von Systemen, die träger interagieren als wir; sie nennen wir „dauerhaft“ und suchen an ihnen die Merkmale „vergangener“ Interaktionen. Was wir „Geschichte“ nennen ist eine spezielle Form zu konstruieren ­­– also wiederum Interaktion mit Daten, Gegenständen, Aussagen mit dem Ergebnis, Modelle zu haben und zu erzählen. Sie sollen möglichst plausibel sein und uns Muster erkennen lassen. Mustererkennung aber ist eine elementare Funktion unseres Gehirns, die im Wesentlichen unbewusst abläuft. Auch beim Simulieren, beim Machen und Erzählen von Geschichte spielen Wünsche und Ängste – und damit Strategien des Vermeidens und Erlangens – mit, die der Kontrolle unseres Bewusstseins entgehen.
Wir geraten an den vertrackten Umstand, dass „Geschichte“ häufig eine Simulation vermeintlich historischen Geschehens in Gang setzt, deren Muster von vornherein den erwünschten Ergebnissen entsprechen. Die „Lehren der Geschichte“ bestätigen unsere vorgefassten Meinungen.
Indessen hat jedes dynamische System eine gemäße Zeit für seine inneren und äußeren Verhältnisse; unser mechanisches Raster schafft bestenfalls eine Relation zwischen unseren Nutzanwendungen und den gemessenen Systemen. Noch immer werden Äpfel eben zu ihrer Zeit reif und nicht wenn es der Konservenfabrik passt. Und die Zeit eines Menschen hat eine Relation zur kosmischen Dimensionen und zu den Dimensionen der Elementarteilchen, die wir uns kaum vorstellen geschweige beherrschen können. Dennoch träumen wir angesichts sterbender Sonnen von der „Unsterblichkeit“ und ziehen an allen Hebeln der Dominanz, sie zu erreichen. Wir akzeptieren gerade eben, dass die Vergangenheit eine Struktur hat, die wir nicht ändern können; dass auch die Zukunft unbeherrschbar strukturiert ist, wollen wir nicht hinnehmen. Planung soll das Dominanzprinzip perpetuieren.
Aber Zukunft ist kein leerer Zeit-Raum, in den sich hineinhantieren lässt. Die Plätze sind besetzt: von Erdbeben, Klimaveränderungen, kosmischen Katastrophen. Vor allem aber von nie gleichzeitig beherrschbaren Zielen und ihrer Antizipation, von den Kraftfeldern mit den wesentlichen Mustern der menschlichen Existenz, von den gleichzeitig wirkenden, die ganze Geschichte der Menschheit wie des einzelnen bewegenden Strategien. Dabei zeigt sich: Gefährlicher für die Menschheit als Killerviren, Klimakatastrophen oder Energiemangel sind unangepasste Strategien. Und natürlich die zugehörigen Rituale und Verhaltensmuster. Wir sind nicht besser als die Igel, nur anders. Wir rollen uns nicht vor den Vierzigtonnern zusammen – nicht in jedem Fall – wir fahren sie. Wir können uns allerdings auch fragen, ob wir wirklich die Joghurtbecher von Polen nach Spanien karren müssen.
Das Beispiel der „BSE- Seuche“ reiht sich würdig in die schier endlose Folge besinnungslos bis zur Katastrophe durchgehaltener Verhaltensweisen: „möglichst viel möglichst billig“ – das war das Ziel der Fleischverbraucher, der Viehzüchter, der Futterhersteller. Tierkadaver, Abwässer samt Fäkalien: egal womit Tiere gefüttert wurden, Hauptsache der Gewinn war möglichst groß. Alle drehten an der Schraube, die Profit aus geschundenen Tieren herausquetschen sollte. Dann tauchten auch im „Musterland“ infizierte Tiere auf und alsbald begann die Hatz auf Sündenböcke. Am Ende war es der Staat, der „Verbraucher nicht genug geschützt“ haben soll. Vor wem, wenn nicht vor sich selbst und ihrer Geiz-ist-geil-Strategie? Vor wem, wenn nicht vor der eigenen Habgier? Nein, habgierig, neidisch, verantwortungslos sind ja immer nur die anderen.
Mit derartigen Beispielen lassen sich Bibliotheken füllen. Und es ließe sich vor allem eines verdeutlichen:
Mit äußeren, geschriebenen Regeln, Gesetzen und Verordnungen, mit Kontrollen und Strafen ist den tödlichen Strategien nicht beizukommen. Jede Regel, jedes Gesetz, jede Verordnung gebiert, sobald nur kundgetan, eine Vielzahl von Schlupflöchern, Methoden, sie zu umgehen oder zu unterlaufen, Ausweichmanöver und nötigenfalls kriminelle Abwehr. Wer imstande ist, tödliche Strategien zu erkennen, täte besser daran, sein Verhalten zu verändern: Durch neue oder geänderte Routinen und Rituale. Es genügt nicht, zu wissen. Nur wo handelnde Subjekte eigenverantwortlich ausprobieren können, und das heißt, auch den unbewusst ablaufenden Interaktionen Platz und Entfaltung zubilligen, entsteht ein schöpferisches Wechselspiel aus Versuch und Irrtum, Lernen und Gestalten. Wie bei Kindern, wenn sie Glück haben.
Weiter zu Abschnitt 6













Donnerstag, 26. Januar 2017

Kapitel 6 (4)

Zurück zu Abschnitt 3
Ludwig XIV. - "Sonnenkönig" von Frankreich
Vor jedem Handeln liegt eine Entscheidung. In den allermeisten Fällen sind wir uns dieser Entscheidungen nicht bewusst. Wenn wir zurückschauen, ergibt sich fast ausnahmslos, dass einer der Handelnden die Tendenz hatte zu dominieren. Es gab immer einen Sieger, einen „Hammer“ und einen „Amboss“. Unsere Geschichtsschreibung und insbesondere die Massenkultur suggerieren, dass ein Sieg, dass das Beherrschen des Gegners wünschenswert ist: „The Winner Takes it All“. Egal was die Siege kosten – sie sind zunächst und vor allem Siege. Diesem Prinzip ist der Mensch seinem Mitmenschen und seiner natürlichen Umwelt gegenüber einige Jahrtausende hindurch gefolgt, und er beherrscht sie mit seinem bewundernswert entwickelten Instrumentarium heute in Bereichen, von denen nur Visionäre vor hundert Jahren träumten. Überschallflüge, Raumgleiter, Tiefseetaucher, Rasterkraftmikroskope für Millionstel Millimeter kleine Räume, Laserimpulse von gewaltiger Energiedichte, die so kurz sind, dass sich 10 –15 Sekunden kurze Prozesse im Zellinneren fotografieren lassen. In den Medien jagen sich die Meldungen von immer mächtigeren Wirtschaftsunternehmen und Supercomputern, gentechnischen Wunderwaffen gegen Krankheiten; bald sollen Roboter, so klein wie Bakterien, unsere Körper durchwandern, diagnostizieren und reparieren.
Noch mehr fesseln das Publikum und die für Werbeeinnahmen zuständigen Medienmanager allerdings Nachrichten von Katastrophen: Wirbelstürme, Killerviren, abstürzende Jets, Massenmorde, Erdbeben. „Wird es schlimmer?“ fragen die Journalisten mit Mienen voller Besorgnis, „Und wenn ja: WARUM? UND WER IST SCHULD?“
Sie sollten sich damit nicht weiter quälen. Wir sind einfach dabei, uns zu Tode zu siegen. Das ist ganz normal, denn jede Strategie ist eine Strategie zum Tod. Solange wir dem Dominanzprinzip huldigen, die Welt als Maschine betrachten, deren Rädchen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung ineinandergreifen und nach dem Warum fragen, wenn uns ein Kampfhund in die Nase beißt, sind die Tage menschlicher Existenz ebenso gezählt, wie die Minuten eines Igels, der sich vor einem Vierzigtonner zusammenrollt.
Bevor in einer Interaktion eine Entscheidung fällt – also andauernd im „Rhythmus von Millisekunden“ – ist in einem komplexen Prozess die Auswahl einer bestimmten Strategie abgelaufen. Jede Lebensform entscheidet sich für diejenige, welche das Wünschenswerte antizipiert. Um es noch einmal ganz deutlich zu unterstreichen: Entscheidungen und Handeln sind von Zielen bestimmt, nicht von Ursachen, die „innere Matrix“ liefert dafür die Strategien. 99 % der Entscheidungen erfolgen unbewusst. Und die gewählten Strategien laufen ganz und gar nicht immer auf Dominanz hinaus, sondern – Sie können es vielleicht schon nicht mehr hören – auf das Erhalten dynamischer Gleichgewichte. Dabei konkurrieren Strategien mit äußerst unterschiedlichen Zeithorizonten, die sich im Laufe des Lebens obendrein sehr verändern. Bewusst wird von diesem permanenten „Streit der Gefühle“ das wenigste.
Aber unsere Wahrnehmung ist retrospektiv. Wir schauen auf das Ergebnis und interpretieren es auf Ursache und Wirkung hin. Wir konstruieren Wirklichkeit über Blicke in den Rückspiegel, während das Leben unablässig weitergeht – und wir von der Realität vor uns, von der Zukunft, nichts wissen können. Wir können nur aus statistischen Daten eine mögliche Zukunft modellieren. Das funktioniert erfahrungsgemäß ganz gut, aber es bleibt eben ein Modell, das von Daten aus dem Rückspiegel lebt. Realität: Die Nase blutet, der Rottweiler ist weg. Konstrukt, um sicheres Verhalten gegen künftig auftauchende Beißer herauszufinden: „Was habe ich falsch gemacht? Warum hat er gerade mich gebissen?“ Außer der Frage war nichts falsch. Es war Glück.
Der Rottweiler antizipierte eine leichte Beute und hätte sicher weiter gespielt. Er hätte Sie gern zum apportierbaren Fleischklumpen gemacht, aber ein Pfiff seines Herrn, eines strengen Dominanzanhängers, hielt ihn ab. Hasso wollte, statt seinem Instinkt zu folgen, lieber schwerste Prügel vermeiden: Ziel und Strategie wechselten blitzschnell. So weit die Realität. Ebenso naheliegende wie fragwürdige Schlüsse:
  • Alle Rottweiler sind bissig – meide sie!
  • Leinenzwang für Hunde muss überall gelten!
  • Das Halten bissiger Hunde muss verboten werden!
  • Hundehalter brauchen einen Hunde-Führerschein!
  • Hunde dürfen nur in umzäunten, mit Warnhinweis ausgewiesenen Gebieten frei laufen!
Jeder dieser Schlüsse zieht Verhaltensszenarien nach sich. Besteht auch nur eines die Prüfung auf Realitätstauglichkeit? Schon Versuche, in Verkehrsmitteln oder an öffentlichen Plätzen, wo sich Menschen drängen, einen Zwang zu Leine oder Beißkorb durchsetzen zu wollen, sind hoffnungslos gescheitert. Tucholskys Glosse über Hunde und Hundehalter ist aktuell wie je.
Welche Vielzahl von Strategien wir einsetzen, habe ich in dem (nicht im Weblog publizierten) Kapitel über die „wortlose Weltsprache”, den körperlichen, nonverbalen Teil der Kommunikation, angedeutet – auch dass unsere Wahl- und Entscheidungsfreiheit ziemlich beschränkt ist. Aber dieses zusätzliche Instrument – Sprache und sprachliches Bewusstsein –, das uns vom Igel unterscheidet, können wir zu Anderem nutzen, als nur um zu dominieren. Wir können uns bewusst machen, dass Dominanz nur den engsten Zeithorizont erfasst und als singuläres Verhältnis in dynamischen Systemen auf Stillstand und Chaos – also Tod hinausläuft.
Anschaulich gesprochen: wenn wir unseren Trieben, Wünschen und Lüsten samt ihren mechanischen Rechtfertigungen („wenn ich’s nicht tue, tut’s ein anderer“, „schließlich machen es alle so“) folgen und despotisch durchsetzen „was das Herz begehrt“, zerstören wir uns selbst. Anarchie ist insofern nur die Kehrseite des Despotismus, dem sie zu trotzen behauptet. Sich jederzeit möglichst nach Lust und Laune verhalten zu können, erscheint vielen wünschenswert und entspricht kindlichen Vorstellungen von „Freiheit“. „Keine Macht für niemand“ oder „Gebt den Kindern das Kommando“, so wird gesungen und skandiert. Es sind Despotenträume.

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Mittwoch, 25. Januar 2017

Kapitel 6 (3)

Zurück zu Abschnitt 2

So wenig es ein Leben ohne Interaktion geben kann, so wenig kommt Interaktion ohne Rituale und Routinen aus. (Routinen definiere ich der Unterscheidung halber als zweckbestimmte Handlungen, die im Gegensatz zu den Ritualen keine sozialen Rollen definieren). Die Komplexität unserer Bewegungen und Handlungen ließe sich ohne sie nicht bewältigen. Das Anschnallen im Auto ist eine solche Routine, das Frisieren vor dem Spiegel nur, wenn es nicht der Selbstinteraktion dient – also praktisch nie. Es ist normalerweise ein Ritual der Selbstdefinition.
Heben wir nun einmal die Augen auf zu den Mächtigen dieser Erde. Sie halten es sicher auch nicht für einen Zufall, dass Macht mit Begriffen wie „hochgestellt“, „erhaben“ oder einfach „groß“ verbunden ist. Klar: die früheste, tiefste und nachdrücklichste Erfahrung mit Unterordnung und Macht ist die rein körperliche Unterlegenheit des Kindes.
Kohl bei der Öffnung des Brandenburger Tors am 22.12.1989

Die Gegner Helmut Kohls hatten es insofern um einiges schwerer als die Oskar Lafontaines, zeitweise um fast anderthalb Zentner. Während Kohl mit seiner auf 194 Zentimeter verteilten Masse jede Menge Luft von der politischen Bühne schob, schien der Zwerg aus dem Saarland ständig auf den Zehenspitzen stehen und das Kinn nach oben recken zu müssen, um auf andere herabsehen zu können. Die katastrophalen Wirkungen auf seine Sympathiewerte beim Publikum habe ich oben schon erörtert. Im Zusammenhang mit Kohl habe ich nicht einmal von wirklich bösen Giftspritzen unter den weiblichen TV- Konsumenten so etwas wie „fieser alter Stinker“ gehört. Witze ja, Abfälliges über seine Intelligenz und seine Bildung die Menge, aber keine wirklich kränkende Bezeichnung. Noch der Wirbel rund um die Spendenaffäre und den nachfolgenden Untersuchungsausschuss zeigt, welche Wellen ein Koloss Kohlschen Formats schlagen kann, und wie er damit seine politischen Gegner ins Strampeln bringt.
Die körperliche Vorgabe begünstigt eine Rollenverteilung nach dem Schema „Vater und Kind“. Sie wäre aber wirkungslos, wenn nicht entsprechende Rituale zwischen dem „Riesen“ und seiner Umgebung dieses Schema fortwährend reproduzieren würden. „Die anderen spielen den König“, das gilt für die kleine Prinzessin und ihre Spielkameraden wie in der großen Politik: wenn nicht Hofschranzen und politische Gehilfen die Korona des Patriarchen erzeugen, wenn es seine Feinde nicht sehr viel Mut kostet, sich ihm und seinem Klüngel entgegenzustellen, fehlt ihm das Wichtigste zu seiner Rolle. Und damit sind wir an einem wichtigen Punkt gelandet: beim Dominanzprinzip.
Leiden oder triumphieren, Amboss oder Hammer sein“ – das ist die klassische Entscheidung, bisweilen auf die platte, mechanische Frage nach der Macht, die Frage „Wer – wen“ verkürzt. Damit ist der systematische Fehler unserer Wahrnehmung, die Reduktion komplexer Prozesse auf simple Kausalitäten, total und brutal zum politischen Prinzip erhoben. Leider haben die katastrophalen Folgen solcher Machtpolitik wenig Einsicht bewirkt. Dem systematischen Fehler folgt der Auswertungsfehler1. Aber es ist mit dem engen Blick auf ewige Abfolgen von Ursache und Wirkung eben noch viel schwieriger, als mit dem auf Sonnenauf- und untergang: Wir sehen ja die Wechselwirkungen von Umgebung, Auge und Gehirn nicht, wir sehen, was uns unser Gehirn sehen lässt. Und an unserem Verhalten erscheint uns nichts so selbstverständlich wie Dominanz.
1 Barbara Tuchman „Die Torheit der Regierenden“

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Montag, 23. Januar 2017

Kapitel 6 (2)

Zurück zu Abschnitt 1 – er schloss: Normalerweise beherrschen Sie Ihre Lebensumgebung routiniert, mit unzähligen unbewussten Handlungen, einige davon haben den Charakter von Ritualen. Das sind diejenigen, die soziale Rollen definieren.
Es muss nicht ein fehlender Kuss sein, an dem Ihnen das bewusst wird: Immer wenn ein solches Ritual merklich verändert wird oder wegfällt, bedeutet das eine erhebliche Veränderung der Interaktionsmuster und stört das Gleichgewicht. Wir haben ein tief wurzelndes Bedürfnis, unser Umfeld mit Ritualen und routinierten Handlungen zu beherrschen und zugleich sind wir von diesem Umfeld abhängig – es handelt sich eben um Wechselbeziehungen.
Für Menschen, deren Interaktionsmöglichkeiten eingeschränkt sind, können Handlungsroutinen besonders wichtig werden: für Autisten oder alte Menschen zum Beispiel.Ich erinnere mich noch sehr gut, wie meine Großmutter im hohen Alter immer mehr die Fähigkeit verlor, spontan auf Veränderungen zu reagieren. Sie nahm nicht auf, was um sie herum vorging. Aber bestimmte Dinge liefen routiniert ab: das Wegräumen des Bettzeugs und das Kaffeekochen ebenso wie das Saubermachen und Einkaufen. Wie sehr sich Routinen und Rituale vom Wahrnehmungsvermögen abkoppelten, merkten wir daran, dass die eingekauften Waren immer dieselben waren, aber gar nicht gebraucht wurden, zum Beispiel -zig Butterpackungen. Wenn meine Großmutter ihr Appartement verließ, schloss sie ihre Tür ab und steckte den Schlüssel in die Einkaufstasche. Am Ende ihres Lebens – sie war schon neunzig Jahre alt – funktionierte auch dabei die Rückkopplung nicht mehr. Mehrmals wandte sie sich auf dem Flur des Appartementhauses um und fragte: „Habe ich denn auch abgeschlossen?“ und dann suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, fand ihn und hatte ihn augenblicklich wieder vergessen, genau wie die vielen Butterstücke in ihrem Kühlschrank.
Meine Besuche bei ihr waren natürlich rituell: im Winter stellte ich meine Langlaufski im Flur ab, sie deckte den Tisch mit Kaffee und Kuchen, wenn ich durchgefroren von den Bergen herunterkam; im Frühling sprachen wir von den blühenden Gärten und dann folgten unabhängig von der Jahreszeit Beschwerden darüber, dass meine Mutter sie zu selten besuchte.
Solche Rituale in der Familie können Sie bestimmt auch beschreiben. Vielleicht können Sie sogar herausfinden, welche Rollenzuweisungen sich mit den Ritualen verbinden.
Wie sehr wir von funktionierenden Handlungsroutinen und -ritualen abhängen merken Sie, wenn ihnen morgens der Filter platzt und Sie den Satz im Kaffee haben. Manchmal reicht weniger, um heftige Reaktionen zu provozieren. Noch stärker wirken jene Rituale, die unsere sozialen Interaktionsmuster ausmachen. Wenn jemand seinen Lebenspartner verlässt, ist er vielleicht von der neuen Liebe aufgewühlt oder den ungewohnten neuen Möglichkeiten gefangen genommen, für die er ein fade gewordenes Zusammensein leicht aufgibt. Der Alleingebliebene stürzt – selbst wenn die Trennung für ihn nicht überraschend kommt – in ein Chaos. Es ist übrigens egal, ob die verlorene Liebe oder der Tod zur Trennung führt: Die unterbrochenen Lebensmuster bringen ihn aus der Balance. Handlungsroutinen laufen in die Leere. Die Antizipation der durch Rituale gesteuerten Wechselbeziehungen funktioniert weiter, aber das Ziel der Erwartung ist nicht mehr da. Und das Ergebnis ist Phantomschmerz, der unser Dasein verstört, egal ob es sich um den Verlust eines Körperteils, eines geliebten Menschen, eine Vertreibung aus der Heimat oder auch nur den Tod eines Haustieres handelt, das lange Zeit mit uns zusammenlebte.
Der Rauhaardackel meiner Mutter lag gewöhnlich im Wohnzimmer auf dem Sofa und sprang, wenn jemand die Wohnung betrat, herunter. Dann flitzte er in den Flur, um den Ankömmling zu begrüßen. Er bellte nur, wenn es geklingelt hatte.
Als der Bursche in die ewigen Jagdgründe einging, war diese stereotype Bewegung samt dem Geräusch der Pfoten immer noch da, als hätte der Dackel eine Spur in der Raumatmosphäre hinterlassen. Natürlich war der Vorgang nur in unsere Wahrnehmung eingewachsen. Jedes Mal, wenn wir im Wohnzimmer saßen und sich ein Schlüssel im Türschloss drehte, antizipierten wir den alten Gefährten. Mit dem Geist von Hamlets Vater hat es vermutlich die gleiche Bewandtnis.

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Sonntag, 22. Januar 2017

Kapitel 6 (1)

 

Die Macht der Rituale und die Rituale der Macht 
 
buendnisa_200Aggression und Dominanz. Die Despotie des Spontanen. Dominanz und die Herrschaft der Dominierten, individuelle und soziale Regelsysteme. Rituale des Gestells und unbeherrschbare Informationsnetze: die Macht von Klatsch und Tratsch.
 
Dieses Kapitel gehört Ihnen. Viel mehr als die vorangegangenen lebt es davon, wie Sie eigene Erfahrungen aufarbeiten und bereit sind, selbst etwas Neues auszuprobieren.
Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, wo Sie mit sich alleine sind und wirklich ungestört, mindestens für eine Viertelstunde. Legen Sie sich auf den Boden und entspannen Sie sich, wie Sie es in Kapitel 3 schon getan haben, um Ihren Körper zu spüren. Schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich des Tagesablaufs - so als liefe ein Film ab, der Sie alles der Reihe nach noch einmal erleben lässt, was vorgefallen ist. Nehmen Sie sich nicht zu viel vor: zwischen Nachtlager und Morgentoilette passiert schon eine ganze Menge. Setzen Sie sich lieber einen Endpunkt – etwa die morgendliche Begrüßung in Ihrer Arbeitsumgebung oder die Verabschiedung der Kinder auf den Schulweg.
Wenn Sie eine erste grobe Ablaufskizze haben, dann gehen Sie in die Details. Was war ihr erster Gedanke beim Wachwerden? Erinnern Sie sich wirklich noch, mit welchem Bein Sie aufgestanden sind? Was war Ihr erster Kontakt zu einem anderen Menschen? Was genau haben Sie beide getan? Und in welcher Reihenfolge?
Sie werden feststellen, dass es einige Mühe macht, wirklich jeden Augenblick in der Erinnerung zu verfolgen und dass viele Handlungen unbewusst und routiniert ablaufen. Besondere Aufmerksamkeit und eine klarere Erinnerung verbinden sich mit jenen, die neu sind oder mit Störungen und Abweichungen einhergehen. Eine ganze Reihe von Handlungszielen erreichen Sie ohne lange nachzudenken, meist sind sie mit Ihren Gedanken woanders, während Sie Filtertüten mit Kaffee füllen oder Orangensaft aus dem Kühlschrank nehmen. Auch, wenn Sie Ihrem Lebenspartner einen Kuss geben und sagen: „Das Frühstück ist fertig“.
Der Kuss ist dennoch wichtig, denn das Ritual konsolidiert die häusliche Rollenverteilung. Jede noch so gewohnheitsmäßige Handlung ist wichtig für Ihr Gleichgewicht, das bemerken Sie spätestens, wenn Sie auf Reisen sind. Wenn nicht, sind Sie immer auf Reisen, nur mit Mama gereist oder liegen ständig unbeweglich auf einem Nagelbrett und schauen in den Himmel. Aber dann sind Mama oder das Nagelbrett unentbehrlich für das Gleichgewicht. Sei’s drum: normalerweise beherrschen Sie Ihre Lebensumgebung routiniert, mit unzähligen unbewussten Handlungen, einige davon haben den Charakter von Ritualen. Das sind diejenigen, die soziale Rollen definieren.

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Donnerstag, 15. Dezember 2016

Kapitel 5(Schluss)

Museo nazionale del Cinema - Cabiria (Turin)
Moloch (von Jean-Pierre Dalbéra from Paris, France (Le musée du cinéma #Turin#) [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons)
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Was also bitte ist soziale Gerechtigkeit? Wirklich die Frage einer quantitativen Egalité im Einfamilienhaus mit Wunschauto?
Es gibt Menschen, die wollen kein Haus, es gibt Menschen, die wollen kein Auto.
Es gibt Menschen, die wollen keine An-Gestellten sein.
Eine Minderheit.
Es gibt Menschen, denen ist mit noch so üppigen Mindeststandards nicht zu helfen, weil sie verrückt sind, süchtig oder sterbenskrank.
Arme Schweine. Die brauchen natürlich Fürsorge.
Höre ich da Mitleid? Oder handelt es sich nicht genau um das Mitleids-Ritual, das die Begünstigten der An-Gestellten-Gesellschaft anstimmen, um eigene Ängste und die von ihnen billigend in Kauf genommenen Risiken und Katastrophen wegzuschieben, um weiter die Sozialsysteme ausbluten zu lassen, indem sie Verantwortung delegieren und auf unerfüllbaren Forderungen an das Gemeinwesen beharren? Um weiter Konflikte zu ignorieren, die in ihre Schablonen von der „sozialen Gerechtigkeit“ nicht passen?

Deutschland ist keine Nation der Unternehmer mehr, sondern eine der an-gestellten Bedenkenträger, Verhinderer und Unterlasser. Aber niemand kommt auf die Welt, um An-Gestellter zu werden, und es darf als bewiesen gelten, dass die Lehre vom Sozialismus nur den Würdenträgern sozialistischer Parteien das Paradies auf Erden verschafft. In der DDR gab es davon reichlich. Sie bewirkten in ihrem Sicherstellungswahn die vollkommene Stagnation; das Land brach zusammen. Der Westen erfand die Legende von den armen, aber mutigen revolutionären Ostdeutschen, die den bösen Kommunismus besiegten und beglückte sie alle – auch die SED- Bonzen – mit mehr sozialer Fürsorge als die DDR je hatte. Der Westen hat den Untergang des Sozialismus noch vor sich.

Samstag, 10. Dezember 2016

Kapitel 5 (7)

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Schlaraffenland
Schlaraffenland: Traum und Alptraum
Der Einsatz von Unternehmern oder Freiberuflern ist nicht durch Tarifregeln begrenzt. Sie haben nicht mal einen garantierten Anspruch auf Urlaub oder auch nur „Freizeit“. Über ihre Risiken entscheiden sie selbst. Das kann mörderisch sein – auch für andere. Die im und vom Gestell Lebenden suchen dagegen persönliche Risiken zu minimieren, womöglich vollkommen zu vermeiden. Ihre Verantwortung haben sie durch Delegieren eingeschränkt, das treibt mindestens ebenso wie die Warenwirtschaft – wie das Geld – jenen Prozess, der unter dem Begriff „Entfremdung“ bekannt wurde. Seltsamerweise ist er aus der Aufmerksamkeit weithin verschwunden.
Wer innerhalb eines Gestells den Unterschied zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“ nicht akzeptiert, sein Leben als „Arbeit an und für sich sieht“, wer Freiräume und persönliche Verantwortung gegen das Streben der Gestelle nach innerer Stabilität und umfassender Kontrolle von Informationen verteidigt, wer nötigenfalls Regeln missachtet oder umgeht, wird Regulierern und Kontrolleuren automatisch verdächtig. Andererseits sichert ein solcher Gegenspieler ihre Existenzberechtigung. So folgerichtig wie der „Ketzer“ dem Gottesstaat erwächst, erwachsen den Gestellen ihre „Whistleblower“. Sie werden mit dem nämlichen Furor verfolgt. Die jeweilige Gegenseite wird sie zu Helden küren, falls sie damit öffentliche Aufmerksamkeit und neue Anhänger gewinnen kann. Falls nicht, muss sich der Betreffende in der Rolle des Außenseiters zwischen allen Stühlen zurechtfinden – und damit hat er womöglich noch Glück.
Medien leben davon, andere bei solchen Spielen vorzuführen, die eigenen inneren Konflikte sehen sie ungern beleuchtet.
Allmählich macht sich erfreulicherweise die Einsicht breit, dass diese Rollenspiele und Strategien in den Bankrott führen – nicht nur in den fiskalischen eines unvorstellbar überschuldeten Staates samt seinen Sozial- und Kontrollsystemen, sondern in den wirtschaftlichen und moralischen einer Gesellschaft, in der möglichst viele mit der Ein-Stellung leben „ICH ALLES SOFORT GRATIS!“.
Ob die von Marx, Lenin und ihren Adepten gesetzte Dichotomien zwischen „Arbeit“ und „Kapital“, links und rechts, sozialem Fortschritt und Reaktion die Wahrnehmung dominieren werden bis zum Kollaps, obwohl Manager von Großunternehmen, Staat und (NG-)Organisationen aller Art samt den ihnen hörigen Medienmachern längst nach denselben Regeln spielen – denen des Gestells, wo ausschließlich Gestell- und Privatinteressen abgeglichen werden und politisches von wirtschaftlichem Kalkül längst nicht mehr zu trennen ist? Werden weiterhin Korporationen mit Gestellcharakter unwidersprochen versuchen, das Gemeinwesen zu usurpieren, nicht mehr und nicht weniger als Clans von Dorftyrannen? Werden sie weiterhin unterm Applaus ihrer „Anspruchsberechtigten“ am Gemeinwohl schmarotzen können?
Wir erleben die Krise dieses Systems und seines „Sozialstaates“, denn die Strategie der „Zukunftssicherheit“ aller als Gestell organisierten Korporationen hat Erwartungen angehäuft, die das Gemeinwesen einfach nicht mehr erfüllen kann. Seine Zukunft ist verstopft von diesen Erwartungen: von den Gewinnerwartungen der Konzerne, dem Kündigungsschutz der Heere von Beamten und „Verwaltern“, den Erwartungen der Beitragszahler an die Versicherungssysteme, den Fürsorgewünschen der Beihilfe-Empfänger. Wir erleben, dass sie alle sich derzeit als unfähig erweisen, von diesen Erwartungen von ihrer „Anspruchsberechtigung“ zu lassen und ihre Strategie zu ändern. Stattdessen heißt es „mehr Desselben“ – auf allen Seiten. Und alle bejammern die folgerichtige Blockade.
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Samstag, 5. November 2016

Kapitel 5 (6)

Wenn Marx, Engels und Lenin etwas geschafft haben, außer Ideen zu geben an die „Arbeiterbewegung“ – in Wahrheit eine Bewegung abhängig Beschäftigter, heute im Wesentlichen eine Interessenvertretung der An-Gestellten –, dann ist es dies: Sie haben die Deutungshoheit über den Begriff des „Sozialen“ mit bestimmten Parteien verknüpft, die ein Zufall der Geschichte auf der linken Seite des Parlaments zu sitzen kommen ließ. „Links“ erscheinen seither die Vorreiter und Hüter des „Sozialstaates“; er korrigiert die „natur-wüchsigen“ Ungerechtigkeiten. Aber der fürsorgliche Staat ist nicht zuletzt eine Erfindung Bismarcks. Er ist zutiefst konservativ und patriarchalisch und verharrt in den alten Schemata von Obrigkeit und Untertanen mit begrenzter Mündigkeit; er belohnt die Systemkonformität, er belohnt das Mittelmaß. In den Köpfen aber hat sich die Dichotomie zwischen „Links“ und „Rechts“ festgesetzt. Über einen Wandel der Bedeutungen von „sozial“, „fortschrittlich“ oder „konservativ“ wird nicht nachgedacht. Mit Klischees lebt es sich nun einmal leichter.

Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass der „Klassenkampf“ zwischen „Sozialismus“ und „Kapitalismus“, der im Kalten Krieg seinen Gipfel zu erreichen schien, eine Fiktion ist, denn beide Seiten sind innerhalb des Gestells untrennbar aneinander gebunden, sie haben sich in ihm entwickelt, sie erhalten es – jeweils dem eigenen Überleben zuliebe – aufrecht und können ohne einander nicht leben. Der letzte Beweis ist das vollkommene Scheitern des „sozialistischen Weltsystems“, wo der Versuch, das freie Unternehmertum auszurotten und die Wirtschaft ausschließlich von den An-Gestellten aus Staat und Partei führen zu lassen, als Katastrophe endete. Nun holen Russen und Chinesen „ihren“ Kapitalismus zurück – die Ausbeutungsexzesse des 19. Jahrhunderts eingeschlossen – mit dem gleichen Personal, das vorher als Staats- und Parteibürokratie die Länder ruinierte. Aber immer noch spukt die Idee, dass wer für An-Gestellte eintritt, auf Seiten der sozialen Gerechtigkeit kämpft, in den Köpfen. In dieser Falle sitzen längst auch die Vertreter der „christlich-sozialen“ Richtungen: Sie folgen der Deutungshoheit der An-Gestellten-Parteien meist schon deshalb, weil sie selbst An-Gestellte sind. Die Mitleids- und Fürsorgerituale halten ihnen das schlechte Gewissen vom Leib. Sie lassen sich dafür gut bezahlen, und die hermetischen Sicherungssysteme für ihre Versorgung nehmen ihnen die Angst, selbst ins Unglück zu geraten. Ängstlich sind sie dabei andauernd: für irgendetwas in die Verantwortung genommen zu werden. Sie übersehen in all ihrer ängstlichen Fürsorglichkeit nur einen systematischen Fehler ihrer Strategie: Fürsorge schafft Bedürftigkeit und umgekehrt. Es ist das Wesen dieser wie jeder Interaktion. Gegen den Mindeststandard „freistehendes Einfamilienhaus und Wunschauto für alle“ gäbe es nichts einzuwenden, außer einem: Er wäre sozial ungerecht.

Es gibt Menschen, die hören sofort auf, irgendeine Art sozialer Verantwortung wahrzunehmen, wenn nur für Essen, Trinken ein Dach überm Kopf und ein bisschen Spaß gesorgt ist. Sie nehmen gern, was ihnen für den Lebensunterhalt zugeteilt wird – einschließlich kompletter medizinischer Versorgung – und schlafen sehr gut, wenn sie nicht versteuern müssen, was sie zusätzlich verdienen. Sie hören es gern, wenn ihnen Politiker und Journalisten versichern, dass die Rolle des Schmarotzers schon an einen anderen Sündenbock vergeben ist: den bösen Kapitalisten. Die An-Gestellten-Parteien können die Rolle logischerweise nur an diejenigen vergeben, bei denen die Mittel für die sozialistischen Versorgungssysteme zu holen sind: Unternehmer, Freiberufler, kurz: diejenigen, die gar nicht oder nicht allein von eben jenen Versorgungssystemen abhängig sein wollen. Natürlich braucht man Unternehmer, um Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb werden junge Menschen gelobt, die das Risiko einer Gründung eingehen. Ihr Unternehmen hat kaum Laufen gelernt und erste Gewinne gemacht, da wird es schon in bürokratische Regelsysteme gezwängt und für Steuern und Sozialabgaben angezapft.

Nein, ich tappe nicht in die Dichotomie-Falle, die hier lauert: An-Gestellte oder abhängig Beschäftigte versus Selbständige, Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer und deren Interessenvertreter, letztlich in das Lemma „Die Geschichte ist eine Geschichte der Klassenkämpfe“. Sozialschmarotzer, gar Soziopathen finden sich unter Selbständigen ebenso wie in allen Schichten, Berufen, unabhängig von Hautfarbe, Sprache, Herkunft Religion oder Geschlecht, sie finden auch immer Formen sich zu verbünden, wenn sie ihr Interesse durchsetzen wollen, das da heißt: „Enteignet die anderen“. Mir geht es nur darum, wie verantwortungsloses Verhalten systemisch begünstigt wird. Marx hatte dafür eine bis heute gern zitierte Beschreibung:

Das Kapital hat ein Grauen vor Abwesenheit von Profit, wie die Natur vor der Leere. Zehn Prozent und man kann sie haben. Zwanzig Prozent und sie werden lebhaft. 50 Prozent positiv waghalsig. Für 100 Prozent stampft man alle menschlichen Gesetze unter den Fuß. 300 Prozent und es gibt kein Verbrechen, das man nicht wagt, selbst auf die Gefahr des Galgens.“

Was Marx hier „dem Kapital“ als Subjekt zuschreibt, Angst und Gier bis zum beispiellosen Risiko, trieb tatsächlich immer das Handeln menschlicher Subjekte – als Einzelne oder im Kollektiv.

Nach 200 Jahren schauen wir auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte der Gier. In den Händen neuer Geldeliten ist mehr Besitz und Macht akkumuliert als in denen sämtlicher Herrscherdynastien des Milleniums – infolge des massenhaften Strebens nach dem Erwerb von Geld und Waren. Nachdem in dieser Welt – das hatte der junge Marx vorausgeahnt – fast alles und jeder zur Ware, also käuflich geworden ist, darf das Geld und seine quantifizierende, alles gleich machende Wirkung als beinahe jedem Einzelnen eingewachsenes Strukturmuster gesehen werden. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wir landen bei der Wechselwirkung individueller Verhaltensmuster mit sozialen Randbedingungen: im Aufgabenfeld der Politik. Es ist DAS Konfliktfeld. Die Aussicht, dass Politik und Staat sich einmal erübrigen könnten, war nie zuvor utopischer. Wundert sich irgendwer, dass die Verteidiger der „reinen“ Marktwirtschaft“ ebenso katastrophale Schäden anrichten wie die der „reinen Staatswirtschaft“ marxistisch-leninistisch-maoistischer Provenienz? Wenn man will, erkennt man hier, wie sich in gesellschaftlichen Verhaltensmustern – im Sinne fraktaler Selbstähnlichkeiten – individuelle ausprägen. Gegensätze sind im Leben freilich nie so „rein“ wie es „reine“ Verhaltensschemata geben kann, aber erkennbar sind immerhin gegensätzliche Strategien: die des Erlangens unter Inkaufnahme größter Risiken und die des Vermeidens unter Inkaufnahme der Bewegungslosigkeit.

Freitag, 4. November 2016

Kapitel 5 (5)

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Die serienweise platzenden Skandale an der Spitze spiegeln doch nur das Grundverhältnis: Wir sind Anspruchsberechtigte. Für die Schäden, für die Folgen verantwortlich sind die anderen. Für die Erziehung der Kinder sind Kinderkrippe, -garten, die Schule oder die Berufsausbildung zuständig. Eltern müssen sich für die Fehlleistungen ihrer Sprösslinge so wenig in Haftung nehmen lassen, wie Politiker für ökonomische Fehlleistungen in Milliardenhöhe. Jeder Jugendliche hat Anspruch auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz, egal wie sein Sozialverhalten von Eltern geprägt wurde, egal wie viel Ehrgeiz er in seine schulischen Leistungen investiert. Kann er seine persönlichen Fähigkeiten und Ansprüche ins Verhältnis setzen und Konflikte mit sprachlichen Mitteln bewältigen? Nein? Er pöbelt und schlägt? Dann braucht er staatliche Fürsorge.
Probleme und Konflikte werden sozialisiert, Ansprüche und Gewinne privatisiert, Fast jeder versucht, sich mit der Macht von Korporationen – in der Regel mit der „seiner“ Firma, Behörde, Organisation, Religionsgemeinschaft, neuerdings der von „Sozialen Netzwerken“ oder eines „Flashmobs“ – zu bewaffnen, um seine Interessen durchzusetzen. Es reicht auch schon, wenn er sich Vorteile verschafft.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass fast für jeden Konflikt eine Organisation – sei sie staatlich, von Kirchen oder privat finanziert – Lösungen parat hält und uns die Verantwortung abnimmt. Wir bewegen uns gerade auf einen Zustand zu, wo dem einzelnen auf jede Frage eine Antwort gegeben wird: von irgendeiner zuständigen Korporation. Wir möchten auch gern noch sicher-stellen, dass er ruhig bleibt, wenn ihm die Antwort nicht gefällt. Das nennt man dann den sozialen Frieden.
Dieser „Frieden“ wird immer wieder einmal gestört, wenn es den Körper nach Zärtlichkeit verlangt. In einer gegen alle Lebensrisiken versteiften Singlegesellschaft, wo jeder hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist, wächst das Verlangen nach Nähe und Berührung. In sicher-gestellten Partnerschaften (tot-gestellt trifft öfter zu) sehnen sich Frauen nach „Schmetterlingen im Bauch“ (was für ein bis zum Erbrechen wiederholtes, die Macht der Triebe verniedlichendes Stereotyp!) und Männer nach haltlosem Sinnenrausch. Die Haut und die Geschlechtsorgane – vor allem das im Kopf – samt der ihnen unauflöslich verbundenen Seele wollen, dass etwas geschieht. Aber es darf nichts passieren!
Dafür gibt es dann – gratis oder für Geld – eine „Kuschelgruppe“. Oder die Sado-Maso-Swingerclubs mit angeschlossenem Puff und Studio für Piercing, Branding, Tätowierungen und Schamhaarcoiffure.
Fragen Sie sich an dieser Stelle bitte einmal ganz ehrlich, was Sie von Prostitution halten. Könnte das nicht eine ganz normale Dienstleistung sein wie jede Physiotherapie? Mit ordentlicher Ausbildung, Berufsschule, Abschlusszeugnis und entsprechendem Ansehen in der Gesellschaft?
Verachten Sie Frauen, die sich „hochgeschlafen“ haben?
Haben Sie Mitleid mit Huren aus dem Osten, aus Afrika oder Brasilien?

Das Sexualverhalten gibt sehr tiefe Auskünfte über den Zustand unserer Kultur – und über das, was wir den „sozialen Frieden“ nennen. Über wenig anderes wird mehr geredet, nur in der Politik wird dabei noch mehr gelogen und geheuchelt. Wenigstens bleibt der Versuch, auch noch die Wunden der Liebe zu sozialisieren, auf absehbare Zeit erfolglos.
 
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Samstag, 1. Oktober 2016

Kapitel 5 (4)

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Linke“ oder sonstwie „kapitalismuskritisch“ Bewegte mit ihrem unerschütterlichen Sinn für soziale Gerechtigkeit wandeln gern auf bequemem Sport- oder Outdoor-Schuhwerk (egal ob Marke oder nicht: fast alles kommt aus Billiglohnländern) zu amtlich genehmigten, völlig gefahrlosen Demonstrationen gegen „die Globalisierung“. Von dort führt sie der Weg an die Imbissbude; sie verzehren billige Lebensmittel und trinken Coca-Cola. Wenn sie Pech haben, stecken in Würsten und Frikadellen große Anteile verdorbenen Fleisches. Die Lebensmittelbehörde kann nicht überall sein; auch für den fleischverarbeitenden Betrieb ist Geiz geil und wer sich an Regeln hält, blöd.
Abends sehen sich die Kämpfer für soziale Gerechtigkeit selbst mit ihren Fahnen und Spruchbändern im Fernsehen und sind sehr zufrieden. Anschließend dürfen sie sich über die billigen rumänischen Arbeitskräfte in Wurstfabriken und den neuesten Lebensmittelskandal ereifern und schreien nach härteren Regeln und Strafen. Sie fordern noch mehr behördliche Aufsicht und Schutz der einheimischen An-Gestell-ten vor ausländischem Lohndumping. Das hindert sie natürlich keineswegs, das Panier gegen zuviel staatliche Überwachung zu schwenken. Rühren lassen sie sich gern von „investigativen“ Geschichten über deutsche Kinder, die in Ostberliner Plattenbauten „unter der Armutsgrenze“ leben. Erschüttert blicken sie in eine 80-Quadratmeter-Wohnung, wo nichts als Couchgarnituren, Betten, Fernseher, Waschmaschine, Kühlschrank, etliche Spielsachen und sonstige Segnungen der Konsumgesellschaft von schreiendem Elend künden und eine sichtlich hingebungsvoll dem Bacchus huldigende Mutter mit der Zigarette in der Hand erklärt, sie müsse halt ihre fünf Kinder zur kirchlichen Suppenküche schicken, weil am Monatsende einfach kein Geld fürs Essen da sei. Bücher sind in dem „Elendsquartier“ nicht zu sehen.
Es ist in all den von Sozialkitsch strotzenden Mitleidsfilmchen und -artikelchen auch nie von der eigentlichen Armut die Rede, unter der die Kinder leiden: von der geistigen und emotionalen Armut einer Gesellschaft, die Vermögen nur in Geld, Glück nur in den Lebensumstand fasst „Arbeit zu haben“, was eigentlich meint: an-gestellt zu sein. Die Wortwahl aber ver-stellt die Verhältnisse: Im Englischen ist die saufende Mutter, die offensichtlich wenig davon hält, ihre Zeit mit Arbeit am sozialen Vermögen ihrer Kinder zu füllen, „un-employed“, also „nicht angestellt“. Im Deutschen ist sie arbeitslos. Was für ein Unglück, und was für ein schlagendes Argument zugunsten der Fürsorgeindustrie!
Wir kommen hier dem ganzen Wahn der „sozialen Sicherungssysteme“ auf die Schliche. Wer oder was soll wogegen gesichert werden? Menschen gegen Hunger und Durst, Kälte, Krankheit, soziale Isolation. Sehr einsichtig. Aber Angst vor derart elementaren Bedrohungen muss hierzulande kaum noch jemand haben. Sollen Menschen auch dagegen versichert werden, für sich und andere Menschen Verantwortung übernehmen zu müssen? Darauf läuft es hinaus. Die Stärke der Gemeinschaft zugunsten der Schwachen einzusetzen – das war das Ziel der sozialen Korporationen; sie nahmen dabei nur die natürliche Strategie von Schwärmen und Herden auf. Aber deren Ein-stellung auf mechanische Denk- und Organisationsstrukturen, wo jeder „Störung“ mit dem Hebelzug an korporativen Machinstrumenten oder nötigenfalls dem Einbau weiterer Hebel und Zahnräder begegnet wird, hat monströse Gestelle heranwachsen lassen: Kranken-, Renten-, Arbeitslosen-, Lebens-, Unfall-, Rechtsschutz-, Haftpflicht-, Hausrat-, Glasschutz-, Feuer- und zahllose weitere Versicherungen, die ihrerseits gegen Risiken rückversichert sind.
Der Hauptzweck, Menschen gegen unkalkulierbare Lebensrisiken zu schützen, ist gegenüber der Selbsterhaltung oder gar dem Gewinnstreben dieser Unternehmen längst zur Nebensache geworden. Die Versicherungsnehmer üben ihre Art „sozialer Gerechtigkeit“: Ein kleiner privater Zugewinn nebenbei durch einen Versicherungsbetrug zu Lasten der anderen Prämienzahler wird von vielen ohne Gewissensbisse „organisiert“. Und wer sich versichert, tut’s nicht gegen Naturkatastrophen, sondern hauptsächlich gegen andere Menschen. Die Rechtsschutzversicherungen boomen. Was die Kassen der Assekuranzen zum Klingen bringt, ist vor allem die Angst, auf Hilfen anderer Menschen angewiesen zu sein. Das mächtige Gestell soll stattdessen alle Probleme lösen.
Dank dieser universellen Versicherungsstrategie ist die Gesellschaft inzwischen vor allem durch Angst gesteuert: Rund um die Uhr leiern die Medien ihre Gefährdungslitanei, „the German Angst“ hat lächerliche Berühmtheit. Unsere Nachbarn wissen immer noch nicht genau, ob sie über uns lachen oder uns fürchten sollen.
Zögert überhaupt noch jemand, seinen Besitzstand, egal welcher Form, zu sichern, indem er jedes nur irgend verfügbare korporative Instrument nutzt? Ob es um die Karriere in Politik, Behörde oder Großunternehmen geht oder um nachbarschaftliche Beziehungen – wer kann, setzt seine Ziele mittels korporativer Macht durch. Wer sich von Partymusik gestört fühlt, klingelt nicht beim Nachbarn, er ruft die Polizei. Die vom Ehemann betrogene Schauspielerin mobilisiert die Presse, um ihr höchst privates Leiden in den Rang einer gesellschaftlichen Katastrophe zu erheben.
Gut in Erinnerung ist der öffentlich-rechtliche Talkmaster mit der Lizenz zum Denunzieren. Er bezahlte Drogen und Prostituierte mit Geldern aus Gebühren, den Zuschauern abgefordert für die von der Verfassung vorgesehene „kulturelle Grundversorgung“. Die Gebühreneintreiber und -verwalter schreiben weiterhin vor, womit versorgt wird und lassen es sich von einer an-Gestellten Medienforschung bestätigen, die natürlich ebenfalls von Gebührengeldern lebt. Mit diesem Segen durfte sich der amoralische Großdenunziator im Fernsehen unverfroren als Megamoralist präsentieren – er brachte Quote. Seine Lebensgefährtin, gut bekannt für Quoten im „Schmuddel-TV“, ließ er auch gleich mit einem gut dotierten Sendeplatz versorgen. Und der Oberhäuptling der Anstalt finanzierte sich aus Gebühren eine ganz sicher kulturvolle Geburtstagsfeier im Luxushotel. Fast zur selben Zeit deckte ein „investigatives“ Magazin des Senders „schonungslos“ auf, wie Personalräte die Macht ihres Autokonzerns zu Lustreisen nutzten.
Unfälle? Zufälle?

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