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Ludwig XIV. - "Sonnenkönig" von Frankreich |
Noch mehr fesseln das Publikum und die für Werbeeinnahmen zuständigen Medienmanager allerdings Nachrichten von Katastrophen: Wirbelstürme, Killerviren, abstürzende Jets, Massenmorde, Erdbeben. „Wird es schlimmer?“ fragen die Journalisten mit Mienen voller Besorgnis, „Und wenn ja: WARUM? UND WER IST SCHULD?“
Sie sollten sich damit nicht weiter quälen. Wir sind einfach dabei, uns zu Tode zu siegen. Das ist ganz normal, denn jede Strategie ist eine Strategie zum Tod. Solange wir dem Dominanzprinzip huldigen, die Welt als Maschine betrachten, deren Rädchen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung ineinandergreifen und nach dem Warum fragen, wenn uns ein Kampfhund in die Nase beißt, sind die Tage menschlicher Existenz ebenso gezählt, wie die Minuten eines Igels, der sich vor einem Vierzigtonner zusammenrollt.
Bevor in einer Interaktion eine Entscheidung fällt – also andauernd im „Rhythmus von Millisekunden“ – ist in einem komplexen Prozess die Auswahl einer bestimmten Strategie abgelaufen. Jede Lebensform entscheidet sich für diejenige, welche das Wünschenswerte antizipiert. Um es noch einmal ganz deutlich zu unterstreichen: Entscheidungen und Handeln sind von Zielen bestimmt, nicht von Ursachen, die „innere Matrix“ liefert dafür die Strategien. 99 % der Entscheidungen erfolgen unbewusst. Und die gewählten Strategien laufen ganz und gar nicht immer auf Dominanz hinaus, sondern – Sie können es vielleicht schon nicht mehr hören – auf das Erhalten dynamischer Gleichgewichte. Dabei konkurrieren Strategien mit äußerst unterschiedlichen Zeithorizonten, die sich im Laufe des Lebens obendrein sehr verändern. Bewusst wird von diesem permanenten „Streit der Gefühle“ das wenigste.
Aber unsere Wahrnehmung ist retrospektiv. Wir schauen auf das Ergebnis und interpretieren es auf Ursache und Wirkung hin. Wir konstruieren Wirklichkeit über Blicke in den Rückspiegel, während das Leben unablässig weitergeht – und wir von der Realität vor uns, von der Zukunft, nichts wissen können. Wir können nur aus statistischen Daten eine mögliche Zukunft modellieren. Das funktioniert erfahrungsgemäß ganz gut, aber es bleibt eben ein Modell, das von Daten aus dem Rückspiegel lebt. Realität: Die Nase blutet, der Rottweiler ist weg. Konstrukt, um sicheres Verhalten gegen künftig auftauchende Beißer herauszufinden: „Was habe ich falsch gemacht? Warum hat er gerade mich gebissen?“ Außer der Frage war nichts falsch. Es war Glück.
Der Rottweiler antizipierte eine leichte Beute und hätte sicher weiter gespielt. Er hätte Sie gern zum apportierbaren Fleischklumpen gemacht, aber ein Pfiff seines Herrn, eines strengen Dominanzanhängers, hielt ihn ab. Hasso wollte, statt seinem Instinkt zu folgen, lieber schwerste Prügel vermeiden: Ziel und Strategie wechselten blitzschnell. So weit die Realität. Ebenso naheliegende wie fragwürdige Schlüsse:
- Alle Rottweiler sind bissig – meide sie!
- Leinenzwang für Hunde muss überall gelten!
- Das Halten bissiger Hunde muss verboten werden!
- Hundehalter brauchen einen Hunde-Führerschein!
- Hunde dürfen nur in umzäunten, mit Warnhinweis ausgewiesenen Gebieten frei laufen!
Welche Vielzahl von Strategien wir einsetzen, habe ich in dem (nicht im Weblog publizierten) Kapitel über die „wortlose Weltsprache”, den körperlichen, nonverbalen Teil der Kommunikation, angedeutet – auch dass unsere Wahl- und Entscheidungsfreiheit ziemlich beschränkt ist. Aber dieses zusätzliche Instrument – Sprache und sprachliches Bewusstsein –, das uns vom Igel unterscheidet, können wir zu Anderem nutzen, als nur um zu dominieren. Wir können uns bewusst machen, dass Dominanz nur den engsten Zeithorizont erfasst und als singuläres Verhältnis in dynamischen Systemen auf Stillstand und Chaos – also Tod hinausläuft.
Anschaulich gesprochen: wenn wir unseren Trieben, Wünschen und Lüsten samt ihren mechanischen Rechtfertigungen („wenn ich’s nicht tue, tut’s ein anderer“, „schließlich machen es alle so“) folgen und despotisch durchsetzen „was das Herz begehrt“, zerstören wir uns selbst. Anarchie ist insofern nur die Kehrseite des Despotismus, dem sie zu trotzen behauptet. Sich jederzeit möglichst nach Lust und Laune verhalten zu können, erscheint vielen wünschenswert und entspricht kindlichen Vorstellungen von „Freiheit“. „Keine Macht für niemand“ oder „Gebt den Kindern das Kommando“, so wird gesungen und skandiert. Es sind Despotenträume.
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