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Das Leben des Pilzes frisst die Lebensenergie des Baums |
Kommen
wir auf die verfügbare Zeit zurück. Wir reden von nichts anderem
als einem Energieverhältnis. Keinem uns bekannten dynamischen System
– egal ob „belebt“ oder „unbelebt“ – steht für seine
Interaktionen unbegrenzt viel Energie zur Verfügung. Das
Energiepaket eines Menschen hat im Allgemeinen eine Größenordnung
von einigen zehn (heute durchschnittlich fast achtzig) Jahren. Wie
weit dieses Reservoir in den Interaktionen mit der Umgebung
ausgeschöpft wird, hängt von Anfangs- und Randbedingungen ab, aber
wir wollen katastrophale Verläufe einmal ausblenden.
Die
Reichweiten unserer Interaktionen liegen alle in einer bestimmten
Größenordnung und unsere gesamte Wahrnehmung ist auf diese
Größenordnung „geeicht“. Die biologische Uhr des Menschen
bezieht sich vollkommen auf seine Energieaustauschprozesse. Sie
registriert während heftiger seelischer und körperlicher Aktivität
einen anderen „Zeitverbrauch“ als in passiven Phasen.
„Was,
soviel Zeit ist schon vergangen?“, fragen sich die Liebenden, wenn
sie zur Uhr schauen, „so wenig erst!“, denkt zur gleichen Zeit
der Nachtwächter. Das mechanische Bewusstsein würde hieraus
schließen, dass die Lebenserwartung von Nachtwächtern wegen des
geringeren Energieaustauschs mit der Umgebung länger ist als die von
Erotomanen. Das ist schon deshalb Unsinn, weil beide jederzeit die
Rollen tauschen können. Jede Biographie hat ihren charakteristischen Energieverlauf; die Bilanz aber liegt bei allen Menschen in der
gleichen Größenordnung (wie gesagt: von katastrophalen Verläufen
sehen wir ab). Um es noch einmal ganz klar herauszustreichen: die
mechanische Ticktack- Uhr ist nur Mittel, Unvergleichbares zu
vergleichen. Sie ist ein Instrument unserer technischen Zivilisation
und ausschließlich für deren Zwecke wird sie immer weiter
vervollkommnet in ihrer Genauigkeit, ohne je die mechanische Abfolge
des „eins nach dem anderen“ zu verlassen.
Wir
landen hier beim Rätsel des „Symmetriebruches“ (Zeit läuft nur
in eine Richtung, eine Umkehr ist nicht möglich), über den Physiker
und Philosophen anhaltend grübeln. Und ich will mich diesen
Grübeleien nicht anschließen, sondern noch einmal – nehmen Sie’s
mir bitte nicht übel – auf der Forderung bestehen, Zeit nicht als
absolute und „wertneutrale“ Größe zu sehen, sondern vom
Standpunkt des dynamischen Systems aus als an Wechselwirkungen
gebundene. Schauen wir also auf die Biographie, als hätten alle
Interaktionen Jahresringe hinterlassen. So gesehen wird klar, dass
jede spätere Interaktion auf dem Holz des Erlebten, Verarbeiteten
und nur noch eingeschränkt Verfügbaren aufbaut. Wir können nicht unser Gedächtnis wie eine Festplatte oder ein Magnetband „löschen“
und neu beschreiben und unseren Körper – also unsere Wahrnehmung –
immer aufs Neue „neutralisieren“. Unsere innere Matrix gestaltet
sich, genau wie ein Baum, kumulativ. Deshalb haben Kinder ein ganz
anderes Zeitempfinden als Erwachsene und uns scheint die Zeit
schneller zu verrinnen je älter wir werden. Jede Bewegung erfasst
den ganzen Baum und nicht nur die im letzten Jahr neu gewachsenen
Äste, jede Wahrnehmung mobilisiert den gesamten Erfahrungsschatz und
damit alle Antizipationsmöglichkeiten, nicht nur die der letzten
Sekunden oder 24 Stunden. In komplexen und bis heute nicht erkannten
Prozessen werden „Langzeit-“ und „Kurzzeiterinnerungen“ mit
einer Fülle von Strategien abgeglichen. Die Routinen und Rituale
sind dabei gewissermaßen das feste Holz, das den Energieaufwand in
Grenzen hält. Sie verleihen uns Gestalt oder den „Charakter“ in
den Interaktionen und Selbstinteraktionen. Vertrauen wir also unserem
Zeitempfinden und lösen wir uns von der technisch- zivilisatorischen
Fiktion einer abstrakt und gleichmäßig ablaufenden Zeit. Sie
gaukelt uns vor, in einen amorphen und unbestimmten Raum
hineinrennen, -planen, -bauen und –regieren zu können, in der die
Sonne morgens auf- und abends untergeht. Unsere Zukunft aber hat eine
Struktur, so wie die Baumzeit ihre Ringe. Sie wird bestimmt durch die
Anfangsbedingungen und das Wechselspiel aus Systemstrategien und
Umgebungseinflüssen.
Das
Beharren auf mechanisch-kausalen Strategien läuft auf den kindlichen
Versuch hinaus, nach erfolgreicher Bändigung eines Schnürsenkels
eine Schleife in eine Giftschlange zu machen.
Sie
halten das für eine blödsinnige Übertreibung? Dann fragen Sie doch
ruhig einmal etwas genauer nach, zu welchem Ergebnis es führen soll,
die Lebensdauer des Menschen um eine Größenordnung – nicht um ein
paar Monate oder Jahre – zu verlängern. Geben Sie Ihrer Phantasie
Zucker und gehen Sie durch eine Stadt New York, in der eine Milliarde
Menschen im Alter zwischen fünf und fünfhundert leben. Bevölkern
Sie Ihre Wohnung mit der zehnfachen Mannschaft. Denken Sie über den
Preis gar nicht nach. Stellen Sie sich nur vor, dass alle diese
reizenden, gutaussehenden, gesunden und wohlgenährten Menschen ihre
Konflikte genauso austragen, wie es heute üblich ist. Denn über
geänderte Verhaltensweisen schweigen sich alle die grandiosen
Utopien der technischen Zivilisation aus. Sie wissen nicht warum, sie
ahnen es nur.
Weiter mit Abschnitt (7)
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